SUTTA-NIPĀTA, Lehr-Dichtungen

5. Das Alter des Sutta-Nipāta

 

Die Frage, wann dieses Buch als Ganzes kompiliert wurde, muß unterschieden werden von der Frage nach dem Alter seiner einzelnen Bestandteile. Während die meisten der Einzel-Dichtungen auf die älteste Zeit der Lehrverkündung zurückgehen, ist ihre Sammlung in dem uns heute vorliegenden Umfang offenbar verhältnismäßig spät erfolgt und ist vielleicht ein Wachstumsprozeß in mehreren Phasen gewesen. Das heutige Sn ist jedenfalls jünger als das Niddesa, das übrigens für die darin kommentierten Texte keinerlei gemeinsamen Titel nennt. Es darf wohl als ausgeschlossen gelten, daß unsere Anthologie bereits auf dem ersten Konzil nach dem Tode des Buddha kompiliert wurde. Es ist jedoch möglich, wenn auch nicht schlüssig zu belegen, daß dies auf dem zweiten Konzil zur Zeit Asokas geschah. Die chronologisch früheste Erwähnung des Titels Sutta-Nipāta findet sich wohl im 2. Teil des Milinda-Pañhā ("Fragen des Milinda"), und zwar an mehreren Stellen des Kapitels der Gleichnisse.

 

Prof. Anesaki zufolge ist das Sn als Ganzes nicht im chinesischen Kanon enthalten.

 

"Es kann mit Bestimmtheit gesagt werden, daß es keine chinesische Version des Sn gibt und daß eine solche nie existiert hat. Aber im Verlauf meiner Āgama-Forschungen habe ich über die Hälfte der einzelnen Texte dieser Sammlung im Chinesischen entdeckt... Das wichtigste meiner Ergebnisse ist das Vorhandensein des Atthaka-Vagga als Ganzes. Es ist No. 674 in Nanjios Katalog, unter dem Tiltel I-tsu. Dieser Titel bedeutet sicherlich arthapadam, statt atthaka in Pāli ... Die Texte dieses Abschnittes sind in anderen chinesischen Texten, soviel ich weiß, viermal zitiert und zwar als I-phien, d.h. artha-vārga. Eines dieser Zitate stimmt mit dem Kāma-Sutta völlig überein ... Außerdem wird das Pārāyana zumindest dreizehnmal in verschiedenen Texten erwähnt oder zitiert." (M. Anesaki, Sutta Nipāta in Chinese in Journal of the Pāli Text Society, 1906).

 

Allerdings lassen sich auf diesem negativen Tatbestand, der mannigfache Gründe haben mag, keine sicheren chronologischen Folgerungen aufbauen.

 

Für die Chronologie von Einzel-Teilen und -Dichtungen des Sn haben wir jedoch weit bessere Belege. Das hohe Alter des Atthhaka-Vagga und Pārāyana-Vagga ist verbürgt nicht nur durch das Niddesa, sondern vor allem durch die häufige Erwähnung dieser beiden Texte in den Lehrreden des Buddha selber. Es werden beide Titel genannt, wobei ausdrücklich erwähnt wird, daß das Atthaka-Vagga aus sechzehn Dichtungen besteht; ferner werden einzelne Verse zitiert und erläutert. Nachstehend geben wir eine Aufstellung dieser Erwähnungen und Zitate:

 

Udāna V,6: "Und der Erhabene erhob sich zur Zeit der nächtlichen Dämmerung und ging den ehrwürdigen Sona mit der Bitte an: 'Möge es dir gefallen, den Mönchen die Lehre vorzutragen!' 'So sei es, Herr!', antwortete der ehrwürdige Sona dem Erhabenen, und er trug alle sechzehn Kapitel des Atthaka mit lauter Stimme vor (... solasa atthavaggikāni sabbān'eva sarena abhani)."

(Übers. v. Seidenstücker)

 

Anguttara-Nikāya, VII.50: "Zu jener Zeit nun war die Laienanhängerin Nandamātā in aller Frühe, als es noch dunkel war, aufgestanden und trug mit lauter Stimme das Pārāyana vor (pārāyanam sarena bhāsati)."

 

Diese Zitate zeigen, welche Bedeutung der Buddha und die Jüngerschaft der Frühzeit diesen beiden Büchern des Sn beimaß. Dies erhält noch ein besonderes Gewicht durch die Tatsache, daß im Sutta-Pitaka andere Lehrreden oder Texte nur ganz selten erwähnt werden; die obigen Zitate dürften sogar die Mehrzahl solcher Erwähnungen darstellen. Die große Hochschätzung für jene beiden Vers-Sammlungen mag nicht nur auf ihren tiefen Gehalt und ihre verdichtete Kraft zurückzuführen sein, sondern wohl auch darauf, daß sie zu den allerfrühesten Dokumenten der Lehrverkündung und des jungen Ordens gehören und so mit besonderer Liebe und Pietät betrachtet wurden.

 

Wir können also feststellen, daß Atthaka-Vagga und Pārāyana-Vagga älter sein müssen als jene selber schon alten kanonischen Texte, in denen sie erwähnt werden.

 

Aus dem dritten im Niddesa kommentierten Text, der "Nashorn Sutte" (Khaggavisāna-Sutta) finden sich Vers 50 a-c in Majjhima-Nikāya Nr. 82 (Ratthapāla); Vers 45-46 (mit veränderter Schlußzeile) in Majjhima-Nikāya Nr. 128 und gleichlautend in Dhammapada Vers 328-329. In allen diesen Fällen dürfte die Nashorn-Sutte die ursprüngliche Quelle sein.

 

N. A. Jayawickrama (*f1) macht ferner darauf aufmerksam, daß die beiden Niddesas häufig Sutten zitieren, welche später in das Sn aufgenommen wurden; z.B. Sabhiya-Sutta, Suciloma-Sutta, Padhāna-Sutta, Māgandiya-Sutta, Dvayatānupassanā-Sutta, Nālaka-Sutta usw.

 

 (*f1) Siehe N. A. Jayawickrama, "The Vaggas of the Sutta Nipata". University of Ceylon Review, VI. 4. Der Verf., ein Dozent der Universität Ceylons, hat in der genannten Zeitschrift noch eine Reihe weiterer aufschlußreicher Einzelforschungen über das Sn veröffentlicht.

 

Unter den nicht-kanonischen Belegen für Einzel-Dichtungen des Sn ist vor allem Asokas zweites Bhairāt (Bhābru)-Felsen-Edikt zu nennen, in dem dieser große Herrscher unter sieben von ihm empfohlenen Lehrtexten drei aus dem Sn erwähnt. Es sind im Wortlaut und der Reihenfolge der Erwähnung:

 

4. Muni-gathā; d.i. Muni-Sutta (Vers 207-221),
5. Moneya-sūte; von Prof. Kosambi mit unserem Nālaka- oder Moneyya-Sutta identifiziert,
6. Upatisa-pasine; d.i. Sāriputta-Sutta, auch bezeichnet als Therapañha-Sutta.

 

Asoka sagt in seinem Edikt: "Diese Lehrtexte, o ehrwürdige Herren, nämlich ..., gesprochen vom erhabenen Buddha, sollen von vielen Mönchen und Nonnen gelernt und meditiert werden, und ebenso von den männlichen und weiblichen Laienanhängern." Vincent A. Smith ("Asoka", 3rd ed.) datiert dieses Edikt auf das 13. Regierungsjahr Asokas, d.i. 257 v. Chr., also vor dem 2. Konzil.

 

Für die Altertümlichkeit des Atthaka- und Pārāyana-Vagga hat man auch sprachliche und metrische Gründe angeführt. Wir glauben aber nicht, daß diese Gründe stichhaltig sind, noch daß wir sie als Beweise für das hohe Alter dieser Texte bedürfen. Was zunächst das Sprachliche betrifft, so findet sich gewiß in diesen beiden Büchern des Sn eine große Anzahl alter vedischer Wortformen (Substantiv- und Verbal-Endungen etc.). Doch man wird kaum behaupten wollen, daß zwischen diesen Versen und jenen viel zahlreicheren Vers- und Prosa-Texten, welche die im Pāli üblichen Wortformen und Konstruktionen aufweisen, eine so große Zeitspanne liegen soll, wie sie für den Übergang von einer sprachlichen Entwicklungsstufe zu einer anderen erforderlich ist. Es liegt viel näher, dies durch einen Stil- und nicht Zeit-Unterschied zu erklären. Dies soll nicht besagen, daß der Verfasser dieser Verse absichtlich einen altertümlichen Stil gewählt hatte, um eine artistische Wirkung zu erzielen. Der jenen großen Gedanken eigene Lapidar-Stil fand vielmehr in dieser kraftvollen Sprache einen natürlichen, ihm gemäßen Ausdruck. Vedischer Formen- und Wortschatz war ja auch zu dieser Zeit, in der die frühen Upanischaden entstanden, durchaus nicht tote Vergangenheit, und auch dem Buddha selber war er aus seinen Lehr- und Wanderjahren wohl vertraut. Die Sakral- und Lapidar-Sprache des vedischen und früh-vedantischen Sanskrit bestand ja neben solch jüngeren Umgangs-, Volks- und Landessprachen (Prakrit), wie dem Pāli (Māgadhi), die einen mehr abgeschliffenen Charakter haben, sowohl in ihrem Lautsystem, ihrer Formenlehre, wie auch ihrem Stil. Diesem Charakter des Prakrit entsprechen jene zahlreichen, auch schon der ältesten Pāli-Literatur angehörenden Verse mit grammatischen Normalformen, einem beschränkten und ziemlich stereotypen Wortschatz und ihren glatten, wohl mehr melodiösen, aber etwas monotonen Metren. Wir begegnen ihnen auch im Sn. Solche Verse sind nicht etwa ästhetisch zu bewerten; sie wollen vielmehr lediglich Belehrung in der knappen und einprägsamen Form der gebundenen Rede geben. Sie sind also nicht etwa als eine späte stilistische Degenerations-Erscheinung zu betrachten. Um so eindrucksvoller erscheint allerdings daneben die kraftvolle Eigenart der meisten Sn-Verse.

 

Man hat auch die verschiedenen im Sn angewandten Metren für eine Datierung der einzelnen Teile dieses Werkes benutzen wollen. So hält z.B. Chalmers (in der Einleitung zu seiner englischen Sn-Übersetzung) die kurzzeiligen Verse im Tristubh-Metrum (z.B. Atth.-V., Nr. 2-5; Vers 955-962, u.a.) "höchstwahrscheinlich für alt", während die langzeiligen, "glatteren" anustubh-slokas, "wenn auch nicht notwendig in allen Fällen, späteren Datums" sein sollen. Chalmers sagt jedoch selber, daß beide Metren schon im Rig-Veda vorkommen. Trotzdem geht er so weit, auf Grund dieses metrischen Kriteriums verschiedene Entstehungsperioden selbst innerhalb des Atthaka-- und Pārāyana-Vagga anzunehmen. So bezeichnet er z.B. das aus sechs Anustubh-Strophen bestehende Kāma-Sutta (Vers 766ff.) als "eine späte Vorrede zum neu-edierten Ganzen"! Dies ist sicherlich abwegig. Chalmers berücksichtigt dabei auch nicht, daß schon das Udāna (s. S. 18) von den sechzehn Sutten des Achter-Buches spricht.

 

Wenn wir auch die sprachliche Eigenart jener beiden Texte nicht als ein chronologisches Kriterium annehmen können, so möchten wir in ihr doch einen guten psychologischen Grund dafür sehen, daß uns der Pali-Kanon tatsächlich in der Original-Sprache überliefert ist, was von einigen westlichen Gelehrten bezweifelt wurde. Wir halten es nicht für wahrscheinlich, daß z.B. die eigentümlichen Sprachformen und originellen Prägungen in diesen beiden Büchern Übersetzungen aus einem Ur-Kanon darstellen sollen. Ihre Eigenart spricht vielmehr für die buddhistische Tradition, nach der das heute so genannte Pāli tatsächlich jener alte Magadhi-Dialekt ist, den der Buddha gesprochen haben soll.

 

Man hat versucht, aus dem Inhalt jener beiden ältesten Teile des Sn eine "Ur-Lehre" zu konstruieren und aus ihr jene Lehrgebiete und Lehrbegriffe auszuschließen (z.B. auch die fünf Daseinsgruppen oder khandha), die im Sn nicht erwähnt werden. Wir brauchen es wohl nicht erst zu begründen, daß für die notwendig willkürliche Konstruktion einer solchen Ur-Lehre derartige negative Indizien unzulänglich sind. Dies gilt besonders für ein Werk wie das Sn, das, wie wir im Geleitwort sagten, die Lehre weniger durch abstrakte Begriffe darstellt, als durch das Bild des Menschen, der diese Lehre lebt. Man kann nicht erwarten, in einem Buch dieser Art die Klassifizierungen und theoretischen Termini der Lehre vollständig anzutreffen.


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