Der Weg zur Erlösung

Erster Hauptteil - SITTLICHKEIT

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Als Sittlichkeit (síla) in buddhistischem Sinne gilt die sich in rechtem Tun und rechter Rede äußernde Willens- und Geistesverfassung und nicht etwa die bloßen körperlichen und sprachlichen Äußerungen, die lediglich als physische Vorgänge und nicht als der eigentliche sittliche Akt zu betrachten sind.

Sittlichkeit in buddhistischem Sinne ist auch nicht, wie es nach manchen Formulierungen der Texte (z. B. Abstehen vom Töten, Stehlen usw.) den Anschein hat, etwas Negatives und besteht nicht etwa in der bloßen Abwesenheit übler Taten oder Worte. Sie ist vielmehr das jedes Mal klar bewußte und gewollte Sichzurückhalten davon, auf Grund der gleichzeitig aufsteigenden edlen Willens- und Geistesverfassung.

Die Sittlichkeit des achtfachen Pfades gilt als die eigentliche oder natürliche Sittlichkeit (pakati-síla) im Gegensatz zu der in äußeren Vorschriften bestehenden sogenannten vorgeschriebenen Sittlichkeit (pannatti-síla).

Die für jeden buddhistischen Anhänger bindenden fünf Sittenregeln (pañca-síla) sind: Abstehen vom Töten (irgendwelcher Lebewesen), Stehlen, ungesetzlichen Verkehr mit dem anderen Geschlecht, Lügen und vom Genusse berauschender Getränke.

Die für alle Novizen und Mönche in Betracht kommenden zehn Sittenregeln (dasa-síla) sind: 

Abstehen: 

  1. vom Töten, 

  2. vom Stehlen, 

  3. von Unkeuschheit, 

  4. vom Lügen, 

  5. vom Genusse berauschender Getränke, 

  6. vom Essen nach zwölf Uhr mittags, 

  7. von Tanz, Gesang, Musik und Schaustellungen, 

  8. von Blumenschmuck, Wohlgerüchen, Schminke u. dgl., 

  9. von hohen, üppigen Betten, 

  10. von der Annahme von Gold und Silber.

Bei den acht Sittenregeln (attha-síla), die an Vollmondtagen und Neumondtagen sowie beim ersten und letzten Mondviertel. d. i. den sogenannten Fasttagen (uposatha), von vielen Laienanhängern befolgt werden, bilden die siebente und achte der obigen zehn Regeln, zu einer einzigen zusammengefaßt, die 7. Sittenregel, während die neunte Regel hier die achte bildet.


Die fünf Sittenregeln

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A. V, 174

(Der Erhabene zu Anāthapindika)

Wer, o Hausvater, fünf schreckliche Übel nicht überwunden hat, der gilt als sittenlos und erscheint in der Hölle wieder: Welche fünf?

Töten, Stehlen, ungesetzlicher Verkehr mit dem anderen Geschlecht, Lügen und der Genuß berauschender Getränke. Wer aber, o Hausvater, diese fünf schrecklichen Übel überwunden hat, der gilt als sittenrein und erscheint auf glücklicher Fährte wieder.

Wie einer, o Hausvater, der diese Dinge verübt, gegenwärtiges wie künftiges schreckliches Übel erzeugt und geistiges Leiden und Trübsal erfährt, so erzeugt, wer sich dieser Dinge enthält, weder gegenwärtiges noch künftiges schreckliches Übel, noch erfährt er geistiges Leiden und Trübsal.

 

Wer Lebewesen wehetut,
Verlogen ist in seinem Wort,
An fremdem Gute sich vergreift
Und seines Nachbarn Weib verführt,
Dem Branntwein und dem Weingenuß
Voll Eifer hingegeben ist:
Wer diese Übel nicht verwirft,
Der gilt fürwahr als sittenlos;
Und wenn dereinst sein Leib zerbricht,
Eilt solcher Tor zur Hölle hin.
 
Wer keinem Wesen wehetut,
Kein falsches Wort entschlüpfen läßt,
Sich nie an fremdem Gut vergreift,
Nicht seines Nächsten Weib verführt,
Zu Branntwein- und zu Weingenuß
Sich niemals hingezogen fühlt:
Wer dieser Übel sich enthält,
Der gilt fürwahr als sittenrein;
Und wenn dereinst sein Leib zerbricht,
Eilt himmelwärts der weise Mann.

 

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Obwohl der Buddhismus das Töten von lebenden Wesen als etwas Böses verwirft, hält er jedoch keineswegs dafür, daß nun auch der Fleischgenuss unter allen Umständen eine unmoralische Handlung sei. Wie nämlich die karmische, d. i moralische Qualität einer Handlung stets durch den ihr zu grundeliegenden Willenszustand (cetanā) bestimmt wird und unabhängig von diesem weder karmisch heilsam (kusala) noch unheilsam (akusala) genannt werden darf, ganz genau so ist es auch mit der an sich moralisch neutralen, äußeren Handlung des Fleischessens.

 

Aus drei Gründen, sage ich, ist der Fleischgenuss zu verwerfen: Wenn man es gesehen oder davon gehört hat oder es vermutet (daß das betreffende Tier für einen persönlich geschlachtet wurde).

 

 

Sollte man nämlich in diesem Falle das Fleisch genießen so würde man dadurch gewissermaßen den Tiermord gutheißen und den Tiermörder in seinem Handwerk bestärken. Daß übrigens auch der Buddha selber bisweilen Fleisch gegessen hat geht unzweideutig aus vielen Stellen des Kanons hervor (z. B. A.V. 44; A.VIII. 12; usw.). Des weiteren wird im Vinaya berichtet, daß der Buddha den Vorschlag Devadattas, den Mönchen den Fleischgenuß zu verbieten, scharf zurückgewiesen hat. Daß der Buddha selbst den Mönchen nicht allen Fleischgenuß verboten hat, läßt sich auch schon aus der Tatsache schließen, daß nach dem Vinaya der Genuß von zehn Fleischarten untersagt ist, und zwar des Fleisches von Menschen, Elefanten, Pferden, Hunden, Leoparden, Löwen, Tigern, Hyänen, Bären und Schlangen.

 

Über den Genuß berauschender Getränke heißt es:

 

D.31

Einen sechsfachen Unsegen bringt der Genuß der zum Leichtsinn führenden berauschenden Getränke, wie Wein und Branntwein, nämlich: Er führt zum Verlust des Vermögens, zu Streitigkeiten, ist eine Quelle der Krankheit, erzeugt einen üblen Ruf, zerstört das Schamgefühl, schwächt die Einsicht.


Die acht Sittenregeln

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A. VIII, 44

Die Befolgung des mit acht Kennzeichen ausgestatteten Fastentages (uposatha), Vāsettha, bringt hohen Lohn und Segen und ist von erhabener Würde und Größe. Und inwiefern?

Da, Vāsettha, erwägt der edle Jünger also bei sich:

1. Zeitlebens meiden die Heiligen das Töten lebender Wesen, halten sich von Verletzung der Lebewesen fern. Ohne Stock, ohne Waffe, voll Zartgefühl und Liebe sind sie auf das Wohl aller Wesen und Geschöpfe bedacht. Und auch ich meide heute, diesen Tag und diese Nacht, das Töten, halte mich von Verletzung der Lebewesen fern. Ohne Stock, ohne Waffe, voll Zartgefühl und Liebe bin ich auf das Wohl aller Wesen und Geschöpfe bedacht. In dieser Eigenschaft folge ich den Heiligen nach, und den Fasttag werde ich befolgt haben. Mit diesem ersten Kennzeichen ist er ausgestattet.

2. Zeitlebens meiden die Heiligen das Stehlen, halten sich vom Nehmen des Nichtgegebenen fern. Das Gegebene abwartend, nicht diebisch gesinnt, verweilen sie lauteren Herzens. Und auch ich meide heute, diesen Tag und diese Nacht, das Stehlen, halte mich vom Nehmen des Nichtgegebenen fern. Das Gegebene abwartend, nicht diebisch gesinnt, verweile ich lauteren Herzens . . .

3. Zeitlebens meiden die Heiligen den unkeuschen Wandel. Keusch und abseits lebend, halten sie sich fern von der Begattung, der gemeinen. Und auch ich meide heute, diesen Tag und diese Nacht, den unkeuschen Wandel . . .

4. Zeitlebens meiden die Heiligen das Lügen, halten sich fern von unwahren Worten. Die Wahrheit sprechen sie, der Wahrheit sind sie verbunden, standhaft, vertrauenswürdig, keine Betrüger der Welt. Und auch ich meide heute, diesen Tag und diese Nacht, die Lüge, halte mich fern von unwahren Worten . . .

5. Zeitlebens meiden die Heiligen den Genuß berauschender Getränke, wie Wein und Branntwein, halten sich fern vom Genuß berauschender Getränke. Und auch ich meide heute, diesen Tag und diese Nacht, den Genuß berauschender Getränke, wie Wein und Branntwein, halte mich fern vom Genuß berauschender Getränke . . .

6. Zeitlebens nehmen die Heiligen nur zu einer Tageszeit (des Morgens) Speise zu sich, bleiben des Nachts nüchtern, enthalten sich des Essens am Abend. Und auch ich nehme heute, diesen Tag und diese Nacht, nur zu einer Tageszeit Speise zu mir . . .

7. Zeitlebens meiden die Heiligen Tanz, Gesang und Musik sowie das Anschauen von Schaustellungen, den Gebrauch von Blumenschmuck, Riechstoffen, Schminke, Schmuck und Schönheitsmitteln. Und auch ich meide heute, diesen Tag und diese Nacht, Tanz, Gesang und Musik sowie das Anschauen von Schaustellungen, den Gebrauch von Blumenschmuck, Riechstoffen, Schminke, Schmuck und Schönheitsmitteln . . .

8. Zeitlebens meiden die Heiligen hohe und üppige Betten, halten sich von hohen und üppigen Lagerstätten fern. Eines niedrigen Lagers bedienen sie sich, sei es Bett oder Strohlager. Und auch ich meide heute, diesen Tag und diese Nacht, hohe und üppige Betten, halte mich von hohen und üppigen Lagerstätten fern. Eines niedrigen Lagers bediene ich mich, sei es Bett oder Strohlager. Auch in dieser Eigenschaft folge ich den Heiligen nach, und den Fasttag werde ich befolgt haben. Mit diesem achten Kennzeichen ist der Fastentag ausgestattet.

In dieser Weise befolgt, Vāsettha, bringt der mit acht Kennzeichen ausgestattete Fastentag hohen Lohn und Segen und ist von erhabener Würde und Größe.


Segen der Sittlichkeit

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A. X, 1

„Was, o Ehrwürdiger, ist der Segen und karmisch-heilsamen Sitten (kusala-síla)?"

„Reuelosigkeit, Ananda, ist der Segen und karmisch-heilsamen Sitten."

„Was aber, o Ehrwürdiger, ist der Segen und Lohn der Reuelosigkeit?"

„Freude, Ananda."

„Was aber, o Ehrwürdiger, ist der Segen und Lohn der Freude?"

„Verzückung, Ananda."

„Und der Verzückung, o Ehrwürdiger?"

„Gestilltheit, Ananda."

„Und der Gestilltheit, o Ehrwürdiger?"

„Glück, Ananda."

„Und des Glückes, o Ehrwürdiger?"

„Sammlung, Ananda."

„Und der Sammlung, o Ehrwürdiger?"

„Wahrheitsgemäßer Erkenntnisblick, Ananda."

„Und des wahrheitsgemäßen Erkenntnisblicks, o Ehrwürdiger?"

„Abwendung und Loslösung, Ananda."

„Und der Abwendung und Loslösung, o Ehrwürdiger?"

„Der Erkenntnisblick der Erlösung, Ananda. Somit also, Ananda, haben die karmisch-heilsamen Sitten die Reuelosigkeit zum Segen und Lohne, hat die Reuelosigkeit die Freude zum Segen und Lohne, hat die Freude die Verzückung zum Segen und Lohne, hat die Verzückung die Gestilltheit zum Segen und Lohne, hat die Gestilltheit das Glück zum Segen und Lohne, hat das Glück die Sammlung zum Segen und Lohne, hat die Sammlung den wahrheitsgemäßen Erkenntnisblick zum Segen und Lohne, hat der wahrheitsgemäße Erkenntnisblick die Abwendung und Loslösung zum Segen und Lohne, haben die Abwendung und Loslösung den Erkenntnisblick der Erlösung zum Segen und Lohne. So also, Ananda, führen die karmisch-heilsamen Sitten nach und nach zum Höchsten."


Der sittlich vollkommene Mönch

70

D. 2

Wie aber ist der Mönch in Sittlichkeit vollkommen?

Da meidet der Mönch das Töten lebender Wesen, steht ab von Verletzung lebender Wesen. Ohne Stock, ohne Waffe, voll Zartgefühl und Liebe ist er auf das Wohl aller Wesen und Geschöpfe bedacht. Das gilt bei ihm als Sittlichkeit.

Er meidet das Nehmen fremden Eigentums, steht ab vom Nehmen fremden Eigentums. Das Gegebene abwartend verweilt er ehrlichen und rein gesinnten Herzens. Das gilt bei ihm als Sittlichkeit.

Er meidet den unkeuschen Wandel, lebt keusch, hält sich abseits, steht ab von der Begattung, der gemeinen. Das gilt bei ihm als Sittlichkeit. Er meidet das Lügen, steht ab vom Lügen, spricht die Wahrheit; der Wahrheit ist er verbunden, standhaft, vertrauenswürdig kein Betrüger der Welt. Das gilt bei ihm als Sittlichkeit.

Er meidet Zwischenträgerei, steht ab von Zwischenträgerei. Was er hier gehört hat, erzählt er dort nicht wieder, um diese zu entzweien; und was er dort gehört hat, erzählt er hier nicht wieder, um jene zu entzweien. So eint er die Entzweiten, und den Geeinten ist er eine Stütze; Eintracht liebt er, an Eintracht hat er seine Freude, Eintracht beglückt ihn, und Eintracht erzeugende Worte spricht er. Das gilt bei ihm als Sittlichkeit.

Er meidet rohe Rede, steht ab von roher Rede. Worte, die dem Ohre angenehm sind, liebevoll, zu Herzen gehend, höflich, vielen erwünscht und angenehm, solche Worte spricht er. Das gilt bei ihm als Sittlichkeit.

Er meidet leeres Geplapper, steht ab von leerem Geplapper. Zur rechten Zeit spricht er, den Tatsachen und dem Sinne gemäß, spricht über die Lehre und Ordenszucht, spricht Worte, die denkwürdig sind, mit Gleichnissen geschmückt, gemessen und sinnvoll. Das gilt bei ihm als Sittlichkeit.

Er steht ab von der Zerstörung von Keim- und Pflanzenleben.

Nur zu einer Tageszeit nimmt er Speise zu sich, des Nachts bleibt er nüchtern, er steht ab von unzeitiger Nahrung.

Er meidet Tanz, Gesang, Musik und den Besuch von Schaustellungen.

Er meidet Blumenschmuck, Wohlgerüche, Schminke, Schmuck- und Schönheitsmittel.

Er meidet die Annahme von Gold und Silber.

Rohes Getreide und Fleisch nimmt er nicht an. Knechte und Mägde nimmt er nicht an. Schafe, Ziegen, Hunde, Schweine, Elefanten, Rinder und Pferde nimmt er nicht an. Grund und Boden nimmt er nicht an. Auf Boten- und Überbringerdienste läßt er sich nicht ein . . . Mit dem Gebrauche von aufgespeicherten Dingen (Speisen, Gewändern usw.) hat er nichts zu tun . . .

Er vermeidet es, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen durch solche niedrigen Wahrsagerkünste, durch welche gewisse Asketen und Priester, die die ihnen aus Vertrauen gespendeten Speisen verzehren, in verkehrter Weise ihren Lebensunterhalt gewinnen . . . Das gilt bei ihm als Sittlichkeit.

Mit dieser edlen Sittlichkeit aber ausgestattet, empfindet er in seinem Innern ein untadeliges Glück. Auf diese Weise ist der Mönch in Sittlichkeit vollkommen.


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