SUTTA-NIPĀTA, Lehr-Dichtungen

IV.11. Streit und Zwietracht (Kalaha-Vivāda-Sutta)

 

862 (DER FRAGENDE)

Woher sind wohl entstanden Streit und Zwietracht,
Das Jammern und das Klagen, samt der Habsucht,
Die Eitelkeit, der Dünkel und auch das Verleumden,
Woher sind sie entstanden? Wolle dies mir künden!

 

863 (DER ERHABENE)

Aus Liebem ist entstanden Streit und Zwietracht,
Das Jammern und das Klagen samt der Habsucht,
Die Eitelkeit, der Dünkel und auch das Verleumden.
Mit Habsucht sind verbunden Streit und Zwietracht,
Und aus entstandener Zwietracht wächst Verleumden.

 


Zeile a. - MNidd: d.h. aus geliebten Objekten, seien es Personen oder Dinge.


 

 

864 (DER FRAGENDE)

Was lieb ist in der Welt, woher entstammt es
Und all die Süchte, welche in der Welt sich finden?
Wunsch und Erfüllung, woher stammen diese,
Die, was des Menschen Ziele sind, bestimmen?

 


Zeile d. - ye samparāyāya narassa honti. - Samparāya bedeutet meist die zukünftige Bestimmung des Menschen, d.h. seine nächste Daseinsform. MNidd erklärt es jedoch hier mit parāyana (Ziel), sarana (Zuflucht), usw., und fügt hinzu: "Der Mensch hat (Wunsch-) Erfüllung zum Ziel" (naro nitthā-parāyano hoti).


 

865 (DER ERHABENE)

Aus dem Verlangen stammt, was lieb ist in der Welt
Und all die Süchte, welche in der Welt sich finden.
Daraus entstehen Wunsch und die Erfüllung,
Die, was des Menschen Ziele sind, bestimmen.

 


Verlangen (chanda); hier nicht als der neutrale geistige Faktor 'Wille' oder 'Absicht' zu verstehen, sondern, lt. MNidd, als kāmacchanda, (Sinnen-Verlangen).


 

866 (DER FRAGENDE)

Verlangen in der Welt, woher entstammt nun dieses?
Das Urteilbilden ist woher entstanden?
Woher der Ärger, Lügenwort und Zweifel
Und andere Dinge auch, die der Asket verkündet?

 


Zeile d. - Der Asket, d.i. der Buddha.


 

867 (DER ERHABENE)

,Erwünscht' und 'Unerwünscht', daß so man unterscheidet,
Hierauf gestützt kommt zum Entstehen Verlangen.
Sieht er Entstehen und Schwinden bei den Körperdingen,
Dann bildet (jene Wert-)Urteile sich der Mensch.

 


Zeile c/d. - Wenn nämlich der Mensch das Entstehen eines erwünschten körperlichen Vorgangs oder das Schwinden eines unerwünschten erlebt, dann fällt er das Urteil: "Dies ist gut." Erlebt er das Schwinden eines Erwünschten oder das Entstehen eines Unerwünschten, so urteilt er: "Das ist schlecht." MNidd unterscheidet durch Begehren und durch Ansichten bestimmte Urteile (tanhāditthi-vinicchaya): Wenn z.B. jemand keinen neuen Besitz erlangt und erlangter ihm schwindet, so fragt er sich nach dem Grund und kommt zu dem Urteil: "Wegen meiner Hingabe an Trunk, Wurfelspiel, Trägheit usw." Dies ist ein durch (Besitz-) Begehren bestimmtes Urteil, veranlaßt durch Entstehen und Schwinden körperlicher Dinge. - Wenn z.B. Sehvermögen entstanden ist, so urteilt man: "Mein Ich ist entstanden"; wenn es schwindet, so urteilt man: "Mein Ich ist geschwunden." Dies ist ein durch falsche Ansicht bestimmtes Urteil, veranlaßt durch das Entstehen und Schwinden körperlicher Dinge.


 

868

Der Ärger, Lügenwort und Zweifel,
Auch diese Dinge sind, wenn jene Zweiheit da ist.
Der Zweifler, auf dem Wissens-Pfade soll er streben!
Aus seinem Wissen zeigte der Asket die Dinge!

 


Zeile b. - Nämlich die Zweiheit von 'Erwünscht' und 'Unerwünscht'.


 

869 (DER FRAGENDE)

,Erwünscht' und 'Unerwünscht', - woher wohl stammen diese?
Wenn was nicht da ist, sind auch diese nicht vorhanden?
Ihr Schwinden und Entstehen, seinem Sinn nach,
Das künd' mir und woher es abstammt!

 

870 (DER ERHABENE)

,Erwünscht' und 'Unerwünscht', vom Sinnen-Eindruck stammt es.
Wenn Eindruck nicht ist, sind auch diese nicht vorhanden.
Ihr Schwinden und Entstehen, seinem Sinn nach,
Daraus entstammt es. So erklär' ich dieses.

 


Zeile a. - Dies entspricht dem Glied der 'Bedingten Entstehung' (paticca samuppada): "Durch Sinnen-Eindruck bedingt ist Gefühl" (phassapaccayā vedanā).


 

 

871 (DER FRAGENDE)

Der Sinnen-Eindruck in der Welt, woher entstammt er?
Das Greifen (nach der Welt), woher ist es entstanden?
Wenn was nicht da ist, gibt's keinen Mein-Gedanken?
Wenn was geschwunden, kann Eindruck nicht berühren?

 


Zeile b. - Greifen (pariggaha); vgl. v. 779 m. Anm.


 

872 (DER ERHABENE)

Durch Geist und Körper ist bedingt der Eindruck,
Aus Wünschen stammt das Greifen (nach der Welt).
Wenn Wünsche nicht sind, gibt's keine Mein-Gedanken,
Wenn Körperwelt geschwunden, kann Eindruck nicht berühren.

 


Zeile d. - Wenn Körperwelt geschwunden (rūpe vibhūte). Das hier gemeinte 'Körperliche' (rūpa) wird im MNidd definiert als "die vier Grundstoffe und die von ihnen abhängigen körperlichen Dinge, (die auch die Sinnen-Objekte einschließen)". Vibhūta ist Part. Perf. von vibhavati, hier in der Bedeutung von 'ent-werden', 'zunichte werden'.

MNidd: Aus vier Ursachen kann Körperlichkeit schwinden: durch Schwinden im Erkennen (ñāta-vibhūta) durch Schwinden im Untersuchen (tīrana-v.) durch Schwinden im Aufgeben (pahāna-v.), durch Schwinden im Überschreiten (samatikkama-v ).

Wie schwindet Körperlichkeit im Erkennen? Man weiß, daß alles was Körperlichkeit ist, in den vier Grundstoffen und den von ihnen abhängigen körperlichen Dingen besteht.

Wie schwindet Körperlichkeit im Untersuchen? Die derart erkannte Körperlichkeit untersucht man in ihrer Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit, Unpersönlichkeit usw. (Mit diesen beiden Arten des 'Schwindens' ist vielleicht gemeint, daß der Einfluß des Körperlichen auf den Erkennenden schwindet oder geringer wird. Oder sollte vielleicht hier die andere Bedeutung von vibhūta gemeint sein: 'klar und deutlich geworden'? Der Übers.)

Wie schwindet Körperlichkeit im Aufgeben? Nach solcher Untersuchung gibt man das Verlangen und die Gier nach der Körperlichkeit auf.

Wie schwindet Körperlichkeit durch Überschreiten? Für den der die vier Unkörperlichen Erreichungszustände (arūpa-samāpatti) gewonnen hat, sind die körperlichen Dinge (einschließlich derjenigen der Feinkörperlichen Sphäre) geschwunden, zunichte geworden, überschritten, völlig überschritten, überwunden (vibhūtā vibhāvita atikkantā samatikkantā vītivattā)."

Die letzten erklärenden Synonyme verwendet MNidd auch in der späteren nochmaligen Glosse zu den Textworten rūpe vibhūte. Dies soll offenbar zum Ausdruck bringen, daß nach Meinung des MNidd hier samatikkama-vibhūta gemeint ist, d.h. das Schwinden der Körperlichkeit im Sinne des Überschreitens oder Hintersichlassens bei Erreichung der vier Unkörperlichen Vertiefungen. Vgl. hiermit die stereotype Sutten-Formel für die Unkörperlichen Vertiefungen: "Nach gänzlicher Überwindung (wtl.: Überschreiten) der Körperlichkeits-Wahrnehmungen . . ." (sabbaso rūpa-saññānam samatikkama). Siehe Anm. zu 874 unter 'Dem so Beschaffenen'.

Die ersten drei der obigen vier Arten des 'Schwindens' entsprechen den drei 'Durchdringungen' (pariññā); siehe v. 778 Anm.


 

 

873 (DER FRAGENDE)

Dem wie Beschaffenen kommt die Körperwelt zum Schwinden?
Ob freudig oder leidig, wie kommt sie zum Schwinden?
Wie dieses alles schwindet, wolle mir verkünden!
,O könnten wir's erkennen!', so verlangt mein Herz!

 

874 (DER ERHABENE)

Nicht hat er das gewöhnliche Bewußtsein, noch ist es krankhaft.
Er ist nicht unbewußt, noch hat er ein entkörpertes Bewußtsein.
Dem so Beschaffenen kommt die Körperwelt zum Schwinden.
Denn vom Bewußtsein stammt die Vielheitswelt in ihren Teilen.

 


Dies ist ein schwieriger Vers, der verschiedene Probleme aufwirft. Vorausgeschickt sei, daß der darin wiederholt vorkommende Begriff saññā (Wahrnehmung) hier als Repräsentant für Bewußtsein im Allgemeinen steht, wie auch in asaññā-satta, nevasaññā-nāsaññāyatana u. a.

Nicht hat er das gewöhnliche Bewußtsein (na sañña-saññī); MNidd: "er befindet sich nicht im natürlichen oder gewöhnlichen Bewußtseinszustand (pakati-saññā)."

Noch ist es krankhaft (na visañña-saññī); MNidd: "er ist nicht wahnsinnig oder geistesgestört."

Er ist nicht unbewußt (na asaññī); MNidd: "er ist nicht in den Zustand der Aufhebung (von Wahrnehmung und Gefühl; nirodhasamāpatti) eingetreten, noch ist er ein unbewußtes Wesen."

Noch hat er ein entkörpertes Bewußtsein, als freie Wiedergabe von vibhūta-saññī, das seinerseits wahrscheinlich eine Abkürzung ist von vibhūta-rūpa-saññī, wie in v. 1113, d.i. einer, dessen Bewußtsein dem Körperlichen und Feinkörperlichen entschwunden ist. - MNidd: "er ist nicht teilhaft der vier Unkörperlichen Erreichungszustände" (na pi so catunnam arūpasamāpattīnam lābhī). - Unser Begriff erscheint auch im Netti-ppakarana in einer Reihe von fünf meditativen Erreichungszuständen (samāpatti): 1) saññāsamāpatti 2) asaññā-s. 3) nevasaññā-nāsaññā-s. 4) vibhūtasaññā-s., 5) nirodha-saññā-s. (PTS, p. 76, 100). Der Kom. zu diesem Werk sagt zu vibhūta-saññā-s.: Es ist dies der Erreichungszustand des 'Gebietes der Bewußtseins-Unendlichkeit' (viññānañcāvatana). Dieser wird nämlich als die 'entschwundene Wahrnehmung' bezeichnet, weil er das Bewußtsein der ersten Unkörperlichen Vertiefung (der Raum-Unendlichkeit) und auch die erste (d.i. frühere) körperliche Wahrnehmung zum Schwinden bringt. Einige lesen vibhūta-rūpa-saññā. Nach deren Meinung handelt es sich dabei um alle übrigen Unkörperlichen Erreichungszustande (d.i. 2 bis 4).

Dem so Beschaffenen (evam sametassa) wird von MNidd definiert als arūpa-maggasamangī., d.i. einer, der nach Austritt aus einer der vier Unkörperlichen Vertiefungen (arūpa-samāpatti) den (Heiligkeits-) Pfad erreicht hat oder der ihn in einer der diesen Vertiefungen entsprechenden Unkörperlichen Welten (arūpa-loka) erreicht hat. Die obige vierte Negation (na vibhūta-saññī) bezieht sich also offenbar lediglich auf einen, der als Weltling (puthujjana) die Unkörperlichen Vertiefungen erreicht hat.

Zeile d. - Denn vom Bewußtsein stammt die Vielheitswelt in ihren Teilen (saññā-nidāna hi papañca-samkhā). Zu papañca siehe v. 8 (Weltausbreitung) und 530 m. Anm. - Der zweite Teil des Kompositums, samkhā, bedeutet: Zahl, Aufzählung, Bezeichnung, Begriff, Erwägung. Vgl. ähnlich in Majjhima-Nik. 18 (Madhupindika-Sutta): papañca-saññā-samkhā welches nahelegt zu übersetzen: 'Vorstellung und Begriff der Vielheitswelt' oder 'Begriff der Vielheits-Wahrnehmungen'. Doch gegen diese Auffassung von sāmkhā spricht unser Vers, für dessen Thema die Einführung von 'Begriff' oder Ähnlichem sicher fehl am Platze und überflüssig wäre. Wir folgten daher dem K zu Majjh. 18, der samkhā dort als kotthāsa, d.i. Teil, erklärt. MNidd betrachtet es offenbar als ein überflüssiges Füllwort und sagt: papañca-samkhā ist dasselbe wie das bloße papañca. Vielleicht nimmt MNidd samkhā als gleichbedeutend mit samkhāta, d.i., "was man bezeichnet als . . .", "so genannt". - Vgl. auch v. 916.

Die oben erwähnte 18. Lehrrede der Mittleren Sammlung kann als Kommentar zu unserer Verszeile dienen. Es sei daraus nur das Folgende zitiert und im übrigen auf diesen Text selber verwiesen: "Wodurch bedingt einen Menschen die Wahrnehmungen der Vielheitswelt in ihren Teilen ankommen, wenn es da nichts mehr gibt zum Erfreuen, zum Bejahen, zum Anhangen, so ist dies eben das Ende der Gier-Neigungen, der Haß-Neigungen, der Neigungen zu Ansichten . . ." Dieser Ausspruch des Buddha wird dann von Mahā-Kaccāna wie folg t erklärt: "Durch Auge und Sehobjekte entsteht Sehbewußtsein; der Zusammenfall dieser drei ist der Sinnen-Eindruck; durch Sinnen-Eindruck kommt es zum Gefühl, was man fühlt, das nimmt man wahr (sañjānāti); was man wahrnimmt, das erfaßt man mit dem Verstande (vitakketi); was man mit dem Verstande erfaßt, das unterscheidet man als vielfältig (pāpañceti). Was man nun als vielfältig unterscheidet, dadurch bedingt kommen den Menschen die Wahrnehmungen der Vielheitswelt in allen ihren Teilen an, als vergangene, künftige und gegenwärtige Sehobjekte."


 

 

875 (DER FRAGENDE)

Das, was wir fragten, hast du uns verkündet.
Ein anderes frag' ich dich, o künd' auch dies!
Wenn da insoweit einige Weise lehren
Die Spitze (des Bewußtseins) als des Menschen Reinheit,
Gibt's nicht auch solche, die da anderes künden?

 


Zeile d. - Die Spitze (aggam) wird in MNidd als die unkörperlichen Vertiefungen erklärt. Besonders ist wohl an deren höchste, 'das Gebiet von Weder-Wahrnehmung noch Nicht-Wahrnehmung', zu denken. Vgl. Digha-Nik. 9, Potthapada: 'die Spitze der Wahrnehmung' (saññ'aggam).

Des Menschen Reinheit (yakkhassa suddhim); vgl. vv. 435, 478.


 

876 (DER ERHABENE)

Wenn da insoweit einige Weise lehren
Die Spitze (des Bewußtseins) als des Menschen Reinheit,
So gibt's auch wieder solche, die als Kenner gelten,
Die die Vernichtung lehren ohne Überrest.

 


Zeile d. - Vernichtung; zu dieser Bedeutung des Wortes samaya vgl. v. 342 Anm.


 

877

Befangen sind sie, - so erkennt man diese.
Als Forscher kennt der Muni ihre Stützen.
Und kennend dies, wird streiten nicht der Freie.
Nicht geht von Sein zu Wiedersein der Weise.

 


Zeile a. - Befangen (upanissitā) und Zeile b: Schützen (nissaye) wird in MNidd erklärt als die Abhängigkeit von der hier behandelten Ewigkeits- bzw. Vernichtungs-Ansicht. Vor allem dürften aber wohl die 'Stützen im Begehren und Theoretisieren' (tanhāditthi-nissaya) gemeint sein, s. 363 Anm.

Zeile c. - MNidd zitiert hierzu Majjh.-Nik. 74: "Mit so befreitem Geist stimmt der Mönch keinem zu und streitet auch mit keinem. Wie in der Welt gesprochen wird, dieser (Redeweise) bedient er sich, ohne sie (damit) zu übernehmen."


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