Visuddhi Magga XX 

Vis.XX.6  Die in Betrachtung des Entstehens und Hinschwindens bestehende Erkenntnis (udayabbayānupassanā-ñāna)

 

Hat nun der Übende, nachdem er so durch Überwindung der der Betrachtung der Vergänglichkeit usw. entgegenwirkenden Vorstellungen der Unvergänglichkeit usw. in Erkenntnis geläutert ist, die Betrachtende Erkenntnis (sammasana-ñāna) vollendet, so befleißigt er sich der Ausübung der 'Betrachtung des Entstehens' und 'Hinschwindens', die unmittelbar nach jener Betrachtenden Erkenntnis beschrieben wird, in den Worten: - "Das in Betrachtung der Veränderlichkeit der gegenwärtigen Dinge bestehende Wissen gilt als die Erkenntnis von der Betrachtung des Entstehens und Hinschwindens." Anfangs jedoch beginnt er mit der zusammengefaßten Methode. 

Der kanonische Text hierzu lautet (Pts.I.p 55f): "Wieso aber gilt das in Betrachtung der Veränderlichkeit der gegenwärtigen Dinge bestehende Wissen als die Erkenntnis von der Betrachtung des Entstehens und Hinschwindens? Als 'gegenwärtig' gilt die entstandene Körperlichkeit, als 'Entstehung' ihre Äußerung im Geborenwerden, als 'Hinschwinden' ihre Äußerung als Veränderlichkeit, als 'Erkenntnis' die Betrachtung. Das entstandene Gefühl - die entstandene Wahrnehmung - die entstandenen Geistesformationen - das entstandene Bewußtsein - das entstandene Auge - das entstandene Dasein gilt als 'gegenwärtig', als 'Entstehung' seine Äußerung im Geborenwerden, als 'Hinschwinden' seine Äußerung als Vergänglichkeit, als 'Erkenntnis' die Betrachtung."

 

Nach dieser kanonischen Erklärung erkennt der Übende bei dem entstandenen Körperlichen und Geistigen als Merkmal des Insdaseintretens die Geburt, die Entstehung, die Neubildung, das Aufsteigen; als Merkmal der Veränderlichkeit das Versiegen, Sichauflösen, Hinschwinden. Er weiß: 'Vor Entstehung dieses Geistigen und Körperlichen, also bevor beide Dinge entstanden waren, gab es noch keine Anhäufung oder Ansammlung derselben. Auch die entstehenden geistigen und körperlichen Dinge kommen nicht von einer Anhäufung oder Ansammlung her, auch gehen die sich auflösenden nicht nach dieser oder jener Richtung; auch für die verschwundenen gibt es keine Stelle, wo sie in Form einer Anhäufung oder Ansammlung blieben. Wie nämlich beim Lautenspiele es weder für den entstandenen Ton vor seiner Entstehung eine Anhäufung desselben gab, noch auch der entstehende Ton von einer Anhäufung herstammt, noch auch der verschwindende Ton in diese oder jene Richtung eilt, noch auch der verschwundene Ton irgendwo aufgespeichert ist, sondern eben durch Rumpf und Hals der Laute und die entsprechende Betätigung eines Mannes bedingt der Ton entsteht, ohne vorher gewesen zu sein, und entstanden wieder verschwindet: so auch kommen alle die körperlichen und unkörperlichen Dinge, ohne vorher gewesen zu sein, zum Entstehen, und entstanden schwinden sie wieder.' In dieser Weise erwägt der Übende ganz kurz das Entstehen und Hinschwinden.

 

Weiterhin erwägt er die Dinge ausführlich mit Hinsicht auf Bedingung und Augenblick: 'So ist die Entstehung des Körperlichen, und so sein Hinschwinden; so entsteht es, und so schwindet es hin.' Und zwar erwägt er die Dinge im Sinne jener 50 Merkmale, die so zusammenkommen, daß er für jede Daseinsgruppe jedesmal 10 Merkmale beim Erkennen des Entstehens und Hinschwindens auffaßt, wie es heißt in der Erklärung der Erkenntnis des Entstehens und Hinschwindens (Pts. I. p. 55 f):

 

"1. 'Durch Entstehung der (vorgeburtlichen) Unwissenheit ist die Entstehung der (gegenwärtigen) Körperlichkeit bedingt': so erkennt er die Entstehung der Körperlichkeit im Sinne von Entstehung der Bedingung dazu.

2. Durch Entstehung des Begehrens...

3. des Karma...

4. der Nahrung ist die Entstehung der Körperlichkeit bedingt'; so erkennt er die Entstehung der Körperlichkeit im Sinne von Entstehung der Bedingung dazu.

5. Während er das Merkmal 'Insdaseintreten' erkennt, erkennt er die Entstehung der Körperlichkeitsgruppe. Während er die Entstehung der Körperlichkeitsgruppe erkennt, erkennt er die 5 Merkmale . . .

6. Durch Erlöschung der Unwissenheit . . .

7. der Nahrung . . .

8. des Begehrens . . .

9. des Karma ist die Erlöschung der Körperlichkeit (beim Tode) bedingt': so erkennt er das Hinschwinden der Körperlichkeitsgruppe im Sinne ihrer Erlöschung.

10. Auch während er das Merkmal 'Veränderlichkeit' erkennt, erkennt er das Hinschwinden der Körperlichkeitsgruppe.

 

Während er also das Hinschwinden der Körperlichkeitsgruppe erkennt, erkennt er diese 5 Merkmale."

 

Ebenso:

"1. 'Durch Entstehung der Unwissenheit . . .

2. des Begehrens . . .

3. des Karma . . .

4. des Bewußtseinseindrucks ist die Entstehung des Gefühls bedingt': so erkennt er die Entstehung des Gefühls im Sinne von Entstehung der Bedingung dazu.

5. Während er das Merkmal 'Insdaseintreten' erkennt, erkennt er die Entstehung der Gefühlsgruppe. Während er die Entstehung der Gefühlsgruppe erkennt, erkennt er diese 5 Merkmale.

6. Durch Erlöschung von Unwissenheit . . .

7. des Begehrens . . .

8. des Karma . . .

9. des Bewußtseinseindrucks ist die Erlöschung des Gefühls bedingt': so erkennt er das Hinschwinden der Gefühlsgruppe im Sinne ihrer Erlöschung.

10. Auch während er das Merkmal 'Veränderlichkeit' erkennt, erkennt er das Hinschwinden der Gefühlsgruppe. Während er das Hinschwinden der Gefühlsgruppe erkennt, erkennt er diese 5 Merkmale." Genau nun was für die Gefühlsgruppe gilt, gilt auch für die Wahrnehmungsgruppe, Geistesformationengruppe und Bewußtseinsgruppe. Der Unterschied jedoch ist der, daß es bei der Bewußtseinsgruppe heißen muß: (4. u. 9.) 'des Geistigen und Körperlichen' statt 'des Bewußtseinseindrucks'.

 

Während er aber so erwägt, wird ihm immer klarer die Erkenntnis: 'So denn entstehen die Dinge ohne vorher gewesen zu sein, und geworden schwinden sie wieder hin.' Während er nun so in zweifacher Hinsicht, nämlich mit Hinsicht auf die Bedingung und auf den Augenblick, das Entstehen und Hinschwinden erkennt, werden ihm die verschiedenen Arten der Wahrheiten, der Bedingten Entstehung, der Methoden und der Merkmale ganz deutlich.

 

Daß er nämlich die Entstehung der Daseinsgruppen als bedingt durch die Entstehung der Unwissenheit usw. erkennt, die Erlöschung der Daseinsgruppen aber als bedingt durch das Erlöschen der Unwissenheit usw., das gilt bei ihm als das Erkennen des Entstehens und Hinschwindens mit Hinsicht auf die Bedingung. Daß aber, während er die im 'Insdaseintreten' und in 'Veränderlichkeit' bestehenden Merkmale erkennt, er das Entstehen und Hinschwinden der Daseinsgruppen erkennt, das gilt bei ihm als das Erkennen des Entstehens und Hinschwindens 'mit Hinsicht auf den Augenblick': nur im Entstehungsmomente nämlich erkennt er das Merkmal des 'Insdaseintretens', nur im Auflösungsmomente aber das Merkmal der 'Veränderlichkeit'. -

 

Indem er so in zweifacher Hinsicht, nämlich mit Hinsicht auf die Bedingung und auf den Augenblick, erkennt, wird ihm die Wahrheit von der Leidensentstehung durch Erkennen seiner Bedingtheit deutlich, insofern er eben die Erzeuger (Unwissenheit, Begehren usw.) erkennt; und durch Erkennen des Entstehens und Hinschwindens mit Hinsicht auf den Augenblick wird ihm die Wahrheit vom Leiden klar, indem er eben das Leiden der Geburt erkennt.

 

Durch Erkennen des Hinschwindens mit Hinsicht auf die Bedingung wird ihm die Wahrheit von der Leidenserlöschung deutlich, insofern er eben erkennt, daß, wenn keine Bedingung aufsteigt, auch die dadurch bedingten Dinge nicht mehr aufsteigen können.

 

Durch Erkennen des Hinschwindens mit Hinsicht auf den Augenblick wird ihm die Wahrheit vom Leiden deutlich, insofern er eben das Elend des Todes erkennt. Das, was er an Erkenntnis des Entstehens und Hinschwindens besitzt, das erkennt er als die Wahrheit vom Pfade, und zwar als den weltlichen Pfad, insofern eben dabei die Verblendung zerstört wird. -

 

Durch Erkennen des Entstehens mit Hinsicht auf die Bedingung dazu wird ihm die fortschreitende 'Bedingte Entstehung' (Unwissenheit, Karmaformationen usw.; s. XVII) deutlich, insofern er eben erkennt: 'Wenn dieses ist, ist jenes'.

 

Durch Erkennen des Hinschwindens mit Hinsicht auf die Bedingung dazu, wird ihm die rückschreitende Bedingte Entstehung (Tod, Geburt, Werdeprozeß usw.) deutlich: 'Wenn dieses erlischt, erlischt jenes' (Wenn Geburt erlischt, erlischt Altern und Sterben; wenn der karmische Werdeprozeß erlischt, erlischt die Wiedergeburt usw.).

 

Durch Erkennen des Entstehens und Hinschwindens mit Hinsicht auf den Augenblick aber werden ihm die bedingt entstandenen Dinge deutlich, insofern er eben das Merkmal des Gewirktseins erkennt; denn die dem Entstehen und Hinschwinden unterworfenen Dinge gelten als gewirkte Dinge, und diese gelten als bedingt entstanden. -

 

Durch Erkennen des Entstehens mit Hinsicht auf die Bedingung wird ihm die Methode der Einheitlichkeit deutlich, insofern er eben die ununterbrochene Kontinuität in der Verknüpfung von Bedingung und Bedingtem erkennt; und um so gründlicher überwindet er die Vernichtungsansicht (uccheda-ditthi). Durch Erkennen des Entstehens mit Hinsicht auf den Augenblick wird ihm die Methode der Verschiedenartigkeit deutlich, insofern er eben das Entstehen von immer wieder ganz neuen Dingen erkennt; und um so gründlicher überwindet er die Ewigkeitsansicht (sassata-ditthi). -

 

Durch Erkennen des Entstehens und Hinschwindens mit Hinsicht auf die Bedingung, wird ihm die Ohnmächtigkeitstatsache deutlich, insofern er eben die Machtlosigkeit der Dinge erkennt; und um so gründlicher überwindet er die Persönlichkeits-Ansicht (atta-ditthi). -

 

Durch Erkennen des Entstehens mit Hinsicht auf die Bedingung ist ihm die Methode der spezifischen Gesetzmäßigkeit deutlich, insofern er eben das Aufsteigen des Bedingten als der Bedingung entsprechend erkennt; und um so gründlicher überwindet er die Ansicht von der Wirkungslosigkeit der Taten (akiriya-ditthi).

 

Durch Erkennen des Entstehens gemäß der Bedingung wird ihm das Merkmal der Unpersönlichkeit deutlich, insofern er eben die Ohnmächtigkeit und den an Bedingungen gebundenen Zustand der Dinge erkennt.

 

Durch Erkennen des Entstehens und Hinschwindens als etwas Augenblickliches wird ihm das Merkmal der Vergänglichkeit deutlich, insofern er eben das Nichtmehrsein des Gewesenen erkennt, das Getrenntsein des Späteren vom Früheren.

 

Auch das Merkmal des Elends wird ihm deutlich, insofern er eben das durch Entstehen und Hinschwinden bedingte Bedrücktsein erkennt.

 

Auch das in der Eigenart bestehende Merkmal wird ihm deutlich, insofern er eben die Differenziertheit (in den Phasen) des Entstehens und Hinschwindens erkennt.

 

Auch die zeitliche Begrenztheit des im Gewirktsein bestehenden Merkmals wird ihm deutlich beim Merkmale der Eigenart, insofern er eben im Augenblick des Entstehens das Nichthinschwinden, und im Augenblick des Hinschwindens das Nichtmehrentstehen erkennt.

 

 

Er aber, dem so die verschiedenen Wahrheiten, (Aspekte der) Bedingten Entstehung, Methoden und Merkmale deutlich geworden sind, sagt sich: 'So kommen denn diese Dinge, ohne vorher entstanden zu sein, zum Entstehen, und entstanden schwinden sie wieder'. Somit treten immer wieder ganz neue Gebilde auf. Nicht aber bloß etwas Neues sind sie, sondern sie sind auch von begrenzter Dauer, gerade wie ein Tautropfen bei Sonnenaufgang, wie eine Wasserblase, eine mit einem Stocke im Wasser gezogene Furche, wie ein auf einer Pfeilspitze liegendes Senfkorn oder wie ein aufleuchtender Blitz. 

Auch als etwas Wesenloses, Gehaltloses, erscheinen sie, wie ein Blendwerk, eine Luftspiegelung, ein Traumgebilde, wie ein durch kreisförmiges Schwingen eines brennenden Holzstückes hervorgerufener Lichtkranz, wie eine Geisterstadt, wie Schaum, oder wie eine Pisangstaude u. dgl. Bloß dem Hinschwinden Unterworfenes entsteht, und entstanden schwindet es wieder': so hat er auf diese Weise insgesamt 50 Merkmale durchdrungen und die in der Betrachtung des Entstehens und Hinschwindens bestehende anfängliche Hellblick-Erkenntnis erreicht, deren Erreichung zufolge man ihn als Hellblickbeflissenen bezeichnet.


 Home Oben Zum Index Zurueck Voraus