Visuddhi Magga IX

Die Göttlichen Verweilungszustände (brahma-vihāra)

Vis. IX. 2. Die Entfaltung des Mitleids (karunā-bhāvanā)

 

Wer das Mitleid zu entfalten wünscht, soll, bevor er solches in Angriff nimmt, vorerst den Unsegen der Mitleidlosigkeit* und den Segen des Mitleids (dieser ist derselbe wie der der Güte, s. oben) bei sich erwägen. Das Mitleid aber soll er anfangs nicht auf solche Personen richten wie eine geliebte Person, einen sehr lieben Freund, einen Gleichgültigen, einen Unlieben und einen Feind. Die geliebte Person nämlich bleibt dabei eben auf der Stufe einer geliebten Person, der sehr liebe Freund auf der Stufe eines sehr lieben Freundes, der Gleichgültige auf der Stufe eines Gleichgültigen, der Unliebe auf der Stufe eines Unlieben, der Feind auf der Stufe eines Feindes. Personen des anderen Geschlechts aber, ebenso wie Verstorbene, bilden einen ungeeigneten Boden.

 

(*Nach dem Kom. besteht dieser in den üblen Folgen, die dem Mitleidlosen, Unbarmherzigen, in diesem und im nächsten Leben beschieden sind, nämlich: schlechter Ruf, Mangel an Selbstvertrauen, häßliches Aussehen, unruhiger Tod usw.)

 

Es heißt: "Wie durchstrahlt der Mönch mit einem von Mitleid erfüllten Geiste die eine Richtung? Gleichwie man beim Anblicke eines im Elend lebenden, notleidenden Menschen Mitleid empfindet, genau so durchstrahlt der Mönch alle Wesen mit Mitleid": nach diesem Ausspruche in Vibhanga (XIII) soll man zu allererst das Mitleid zur Entfaltung bringen, wenn man irgend einen bemitleidenswerten, mißgestalteten, in äußerste Not und Elend geratenen, notleidenden, armen, verhungerten Menschen erblickt oder einen, der seinen Bettelnapf vor sich hingestellt hat und im Armenhause sitzt, indem ihm an Händen und Füßen ein Gewimmel von Ungeziefer hervorkriecht und er dabei Klagelaute ausstößt. Und man erwecke Mitleid zu ihm und denke: 'Dem Elend, wahrlich, ist dieser Mensch verfallen! Ach, daß er doch von diesem Leid befreit werden möchte!'

 

"Trifft man aber einen solchen nicht, so mag man gegen einen Übeltäter, selbst wenn es diesem wohl geht, Mitleid erwecken, indem man ihn mit einem zum Tode Verurteilten vergleiche. Und in welcher Weise? Da führen z.B. die Leute des Königs einen eingefangenen Räuber, auf des Königs Befehl ihn hinzurichten, gefesselt zur Richtstätte, während sie ihm an jedem Kreuzungspunkte hundert Hiebe austeilen. Und die Menschen geben ihm allerhand zu essen und zu kauen, sowie Blumen, Riechstoffe, Salben und Betelblätter*. Obgleich er nun diese Dinge kaut und genießt und dahinschreitet, als ob es ihm gut gehe und er große Reichtümer besitze, so denkt doch keiner von ihm, daß er glücklich und reich sei, sondern die Leute bemitleiden ihn und sagen sich: 'Mit aller Gewißheit wird dieser Bejammernswerte nun sterben müssen. Mit jedem Schritte, den er tut, kommt er dem Tode näher'. Genau so mag der die Entfaltung des Mitleids übende Mönch selbst mit einem Menschen, dem es gut geht, Mitleid empfinden und denken: 'Obgleich dieser Elende zwar augenblicklich glücklich und wohlversorgt ist und seine Schätze genießt, so wird er doch, da er eben durch keines der drei Tore (des Wirkens; nämlich Körper, Sprache und Geist) Gutes gewirkt hat, nunmehr in den Höllenwelten gar viel Leiden und Trübsal erfahren'.

 

(*Dies sind die aromatisch brennenden und herb schmeckenden Blätter der als Betelpfeffer bekannten Schlingpflanze. Mit Zutat der darin eingewickelten, meist in Scheibchen geschnittenen holzigen Nuß der Arekapalme und einer Art Kalk bilden diese Blätter ein mehr oder weniger narkotisch wirkendes Kaumittel, das in ganz Vorder- und Hinterindien mit großer Vorliebe genossen wird.)

 

Auf dieselbe Weise hat man darauf zu einer geliebten Person, dann zu einem Gleichgültigen, dann zu einem Feinde der Reihe nach Mitleid zu erwecken.

 

Steigt aber bei der oben angegebenen Methode noch Groll gegen den Feind auf, so bringe man jenen nach der in der Entfaltung der Güte gewiesenen Weise zur Ruhe.

 

Und selbst mit einem, der Gutes gewirkt hat, erwecke man Mitleid, sobald man sieht oder davon hört, daß er von irgend einem Verluste heimgesucht wird, sei's an Verwandten, Gesundheit oder Vermögen; und selbst, wenn dies nicht zutrifft, soll man doch, insofern er eben dem Leiden der Daseinsrunde noch nicht entronnen ist, auf alle Fälle Mitleid erwecken und denken: Noch ist dieser dem Leiden unterworfen!' Und nach der besagten Methode hat man hinsichtlich der vier Personen - d.i. seiner selbst, der geliebten Person, des Gleichgültigen und des Feindes - alle Schranken aufzuheben und durch Ausübung, Entfaltung und häufige Wiederholung dieser Vorstellung nach der für die Entfaltung der Güte gewiesenen Methode die Volle Sammlung der drei, bzw. vier Vertiefungen zur Entwicklung zu bringen.

 

Nach dem Kommentar zu Anguttara jedoch ist das Mitleid zuerst zu einer feindlichen Person zu erwecken und dann, sobald man hinsichtlich dieser das Gemüt weich gemacht hat, zu einer unglücklichen Person, dann zu einer geliebten Person, dann zu sich selber: diese Methode wird dort angegeben. Dieselbe deckt sich also nicht mit dem Texte, wonach man zuerst zu einem unglücklichen, notleidenden Menschen das Mitleid zu erwecken hat. Daher hat man hier die Entfaltung des Mitleids nach der angegebenen Weise in Angriff zu nehmen und, nach Aufhebung aller Schranken, die Volle Sammlung zur Entwicklung zu bringen, darauf auf fünffache Weise die unbegrenzte Durchdringung, auf siebenfache Weise die begrenzte Durchdringung und auf zehnfache Weise die Durchdringung aller Richtungen. Dies gilt als die Herzenswandlung.

Die Segnungen der Entfaltung des Mitleids sind in der für die Entfaltung der Güte angegebenen Weise aufzufassen, nämlich: "Friedlich schläft man usw."


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