Vipassanā Meditation

Fünfter Morgen - Unterweisung: Gedanken

 

Es ist sehr wichtig, die Gedanken zum Objekt der Achtsamkeit zu machen. Wenn wir unachtsam beim Aufsteigen der Gedanken sind, ist es schwierig, Einblick in ihre unpersönliche Natur und in unsere tiefwurzelnde und subtile Identifizierung mit dem Gedankenablauf zu nehmen. Diese Identifizierung stärkt die Illusion des Selbst, von "Jemandem", der denkt. Über die Gedanken zu meditieren bedeutet, sich bewußt zu sein, daß der Geist denkt, wenn die Gedanken aufsteigen, ohne sich dabei um den Inhalt zu kümmern: nicht einem Gedankengang zu folgen, nicht den Gedanken zu untersuchen oder sich zu überlegen, warum er aufsteigt, lediglich sich bewußt zu sein, daß gerade in diesem Augenblick "Denken" geschieht. Es hilft, wenn Sie, jedesmal wenn ein Gedanke aufsteigt, "Denken, Denken" im Geiste bemerken. Betrachten Sie den Gedanken ohne Wertung, ohne Reaktion auf den Inhalt, ohne sich damit zu identifizieren, ohne den Gedanken als das "Ich", das "Selbst" oder das "Meine" zu verstehen. Der Gedanke ist der Denker. Es steht niemand dahinter. Der Gedanke denkt sich selbst. Er kommt ungerufen. Sie werden bemerken, daß die Gedanken nicht lange anhalten, wenn Sie einen starken Abstand zu dem Gedankenvorgang gewinnen. Wenn Sie die Achtsamkeit auf einen Gedanken richten, wird er schwinden, und die Aufmerksamkeit richtet sich wieder auf den Atem. Manche Menschen ziehen es vor, verschiedene Arten der Gedanken zu benennen, entweder "Planen" oder "Vorstellen" oder "Erinnern". Dies fördert die Einspitzigkeit. Aber andererseits reicht die geistige Notiz "Denken, Denken" völlig für den Zweck aus. Schon beim Aufsteigen sollten Sie den Gedanken beachten, nicht erst einige Minuten später. Wenn die Gedanken sorgfältig und gelassen bemerkt werden, haben sie keine Kraft, den Geist zu verwirren.

 

Sie sollten Gedanken nicht als Behinderung oder Störung betrachten. Sie sind lediglich ein weiteres Objekt der Achtsamkeit, ein weiteres Meditationsobjekt. Lassen Sie Ihren Geist nicht träge werden und nicht abgleiten. Bemühen Sie sich mit großer Klarheit um das Geschehen des Augenblicks.

Suzuki Roshi schreibt in Zen-Geist, Anfänger-Geist:

 

Wenn Ihr Zazen praktiziert, versucht nicht, Euer Denken zu unterdrücken. Laßt es von selbst aufhören. Wenn Euch etwas in den Sinn kommt, laßt es hereinkommen und laßt es hinausgehen. Es wird nicht lange bleiben. Wenn Ihr versucht, Euer Denken zu unterdrücken, bedeutet dies, daß Ihr von ihm gestört seid. Laßt Euch von nichts stören. Es scheint Euch, als ob etwas außerhalb Eures Geistes auftreten würde, aber in Wirklichkeit sind es nur die Wellen Eurer Gedanken, und wenn Ihr Euch von den Wellen nicht stören laßt, werden sie allmählich ruhiger und ruhiger... Viele Empfindungen kommen, viele Gedanken und Bilder entstehen, aber es sind nur Wellen Eures eigenen Geistes... Wenn Ihr Euren Geist laßt wie er ist, dann wird er ruhig. Dieses wird Großer Geist genannt.

Lassen Sie die Dinge geschehen, wie sie geschehen. Lassen Sie alle Gedanken, Bilder und Empfindungen aufsteigen und dahinschwinden, ohne zu reagieren, ohne zu werten, ohne sich daran zu klammern und ohne sich damit zu identifizieren. Werden Sie eins mit dem Großen Geist, beobachten Sie sorgfältig und bis ins Kleinste das Kommen und Gehen der Wellen. Durch diese Einstellung erreichen Sie schnell einen Zustand des Gleichgewichts und der Stille. Lassen Sie den Geist nicht abschweifen. Halten Sie den Geist in jedem Augenblick einspitzig auf das Geschehen gerichtet, ob es das Ein- und Ausatmen ist, das Heben und Senken, oder ob es Empfindungen oder Gedanken sind. In jedem Moment sollten Sie mit einem ausgeglichenen und entspannten Geist das Objekt erfassen.

 


Fünfter Abend - Vorstellungen und Wirklichkeit

 

In Platos Republik gibt es ein berühmtes Gleichnis über eine Höhle. In der Höhle sind eine Anzahl Menschen derart mit Ketten gefesselt, daß sie lediglich die rückwärtige Wand sehen können. Hinter der Menschenreihe ist ein Feuer, und eine Menge Wesen gehen hin und her, beschäftigt mit den Dingen des täglichen Lebens. Diese Wesen werfen Schatten auf die Rückwand der Höhle. Die angeketteten Menschen können nur die wechselnden Schatten sehen, und weil dies alles ist, was sie je gesehen haben, halten sie diese Schatten für die absolute Wirklichkeit. Manchmal gelingt es einem der Angeketteten, durch große Anstrengungen, die Ketten zu lockern und sich umzudrehen. Er oder sie sieht dann das Feuer und die wandernden Wesen und beginnt zu verstehen, daß die Schatten nicht Wirklichkeit sind, sondern lediglich ein Widerschein an der Wand. Wenn sich diese Person nun weiter bemüht, wird es ihr vielleicht möglich sein, die Ketten abzuwerfen und in das Sonnenlicht, in die Freiheit zu gelangen.

 

Wir haben ähnliche Schwierigkeiten wie die angeketteten Menschen in der Höhle. Die Schatten sind die Welt der Vorstellungen, in der wir leben. Durch unsere Verhaftungen sind wir angekettet, wir nehmen die Welt durch unsere Ideen, unsere Gedanken, unsere geistige Beschaffenheit wahr und halten diese Vorstellungen für die Wirklichkeit.

 

Es gibt viele Vorstellungen, die uns stark geprägt haben und die tief in unseren Geist eingegraben sind. Zum Beispiel ist das Leben vieler Menschen stark verknüpft mit der Vorstellung von Ort, Land und Nation. Auf dem Planeten gibt es keine Aufteilungen unter den Ländern. Unser Geist hat diese abwegigen Vorstellungen hervorgebracht. Jedesmal wenn Sie eine Grenze überschreiten, können Sie sehen, wieviel "Wirklichkeit" in diese Vorstellung von einem Ort hineingelegt wird. Viele Schwierigkeiten in der Welt - politische und wirtschaftliche Spannungen und Feindseligkeiten - sind mit dem Gedanken verbunden: "Dies ist meine Nation, mein Land." Wenn wir verstehen, daß diese Vorstellung nur das Produkt unserer eigenen Denkvorgänge ist, können wir beginnen, uns von diesen Anhaftungen zu befreien.

 

Ein griechisches Mädchen, das nach Indien reiste, erzählte mir einmal eine Geschichte, die die Vorstellung eines Ortes sehr gut beleuchtet. Sie beschrieb einen Grenzübergang mitten in einer Wüste. Die Grenze bestand aus einem ausgetrockneten Flußbett, und über das Flußbett spannte sich eine große Eisenbrücke, deren eine Hälfte grün und deren andere Hälfte rot angestrichen war. Es gab dort nichts außer der öden Wüste und der zweifarbigen Brücke. Mitten auf der Brücke war ein Eisentor das von beiden Seiten verschlossen war. Wollte jemand von einem "Land" in das andere gehen, riefen die Wachhabenden auf einer Seite nach den anderen auf der gegenüberliegenden Seite; gleichzeitig trafen sie dann auf der Mitte der Brücke ein, drehten die Schlüssel in den Schlössern und öffneten das Tor: das Überschreiten der Grenze!

 

Die Vorstellung der Zeit ist auch sehr stark in unserem Geist verankert. Ideen über Vergangenheit und Zukunft. Was ist das, was wir Zeit nennen? Wir haben bestimmte Gedanken, die im gegenwärtigen Augenblick auftreten. Erinnerungen Reflexionen -, wir nennen diese ganze Gedankengruppe "Vergangenheit" und projizieren sie irgendwohin jenseits von uns, abseits vom gegenwärtigen Moment. Gleichermaßen planen und ersinnen wir und nennen diese Gedanken "Zukunft" und projizieren sie in eine erdachte Wirklichkeit außerhalb von uns. Selten erkennen wir, daß "Vergangenheit" und "Zukunft" gerade jetzt geschehen. Es gibt nichts außer dem sich entfaltenden gegenwärtigen Augenblick. Wir haben diese Vorstellungen für einen nützlichen Zweck erfunden, aber da wir die Vorstellungen als Wirklichkeit ansehen, weil wir nicht Verstehen, daß sie lediglich ein Produkt unserer eigenen Denkvorgänge sind, überkommen uns Sorgen und Bedauern in bezug auf die Vergangenheit und grübelndes Vorausahnen der Dinge, die noch nicht geschehen sind. Wenn wir uns in den Augenblick hineingeben und erkennen, daß Vergangenheit und Zukunft lediglich Gedanken in der Gegenwart sind, befreien wir uns von der Fessel "Zeit".

 

Es ist nützlich, wenn wir den Einblick in die Natur der Vorstellungen entfalten, damit wir erkennen, wie verhaftet wir sind. Wir bilden uns ein, daß wir Dinge "besitzen". Das Kissen, auf dem wir sitzen, hat keine Ahnung davon, daß es jemand gehört. Die Vorstellung von Besitz bezieht sich auf die Nähe zu den verschiedenen Objekten. Zeitweise sind wir den Objekten nahe, benutzen sie und haben dann die Vorstellung, daß sie uns gehören. Tatsächlich ist Besitz ein Denkprozeß völlig unabhängig von der wirklichen Verbindung zwischen uns und den Objekten in der Welt. Wenn wir uns von der Verhaftung an "Besitz" befreien, befreien wir uns von unserer Abhängigkeit von den Objekten.

 

Eine andere Vorstellung, in die wir alle verwoben sind, und das sehr stark, ist die Vorstellung von Mann und Frau. Wenn Sie Ihre Augen schließen, gibt es die Atmung, Empfindungen, Geräusche, Gedanken - wo ist "Mann" oder "Frau" außer als Idee, als Vorstellung? Mann und Frau hören auf zu existieren, wenn der Geist still ist. Stellen Sie sich einmal Wellen vor, die sich aus dem Ozean erheben und Bemerkungen übereinander machen, ob sie groß oder klein, schön oder herrlich sind, was in relativem Sinne wahr ist, aber nicht die darunterliegende Einheit der großen Menge Wasser reflektiert. Genauso ist es, wenn wir uns Vorstellungen von bestimmten Formen und Gestalten machen und uns daran klammern; Vergleiche, Bewertungen und Verurteilungen steigen auf und stärken die relative Trennung und Isolation. In der Meditation befreien wir uns von dem Anhangen an diese Vorstellungen und erfahren die fundamentale Einheit der Elemente, aus denen unser Sein zusammengesetzt ist.

 

Die Vorstellung, die vielleicht am tiefsten eingegraben ist, die uns die längste Zeit in der Höhle der Schatten gefangen und uns an das Rad von Leben, Tod und Wiedergeburt gefesselt hält, ist die Vorstellung des Selbst. Die Idee, daß jemand hinter dem Fließen steht, daß es eine Entität, ein unvergängliches Element gibt, das die Essenz unseres Seins ist. Das Selbst, das Ich, das Meine sind alles Vorstellungen des Geistes, sie steigen auf durch das Identifizieren mit den verschiedenen Aspekten des geistig-körperlichen Vorgangs. Von Anfang an gibt es kein "Selbst", da wir aber so tief in der Vorstellung davon leben, verbringen wir einen großen Teil unseres Lebens damit, dieses eingebildete Selbst zu verteidigen oder aufzublähen oder zu befriedigen. Meditation hilft uns, seine nur vorgestellte Natur zu erkennen, zu sehen, daß es in Wirklichkeit nicht existiert, daß es nur eine Vorstellung ist, eine irreführende Projektion auf das Geschehen des Augenblicks.

 

Dies sind einige der Vorstellungen, die uns gefesselt halten. Vorstellungen von Ort, Zeit, Besitz, von Mann oder Frau und Selbst. Sie können sehen, wie ausgeprägt diese Vorstellungen sind, wie vieles in unserem Leben sich um sie dreht, wie sehr wir in der Welt der Schatten leben. Kalu Rinpoche, ein sehr bekannter tibetischer Meditationsmeister, schrieb:

 

"Sie leben in Vorstellungen und in der Erscheinung der Dinge. Es gibt eine Wirklichkeit. Sie sind diese Wirklichkeit. Wenn Sie dies verstehen, werden Sie sehen. daß Sie nichts sind. Und wenn Sie nichts sind, sind Sie alles. Das ist alles.''

Es gibt vier "absolute Wirklichkeiten". Sie werden so genannt, weil sie erfahren werden können, im Gegensatz zum bloßen Nachdenken darüber. Diese vier absoluten Wirklichkeiten beinhalten unseren gesamten Erfahrungskomplex.

 

Die erste umfaßt die materiellen Elemente, aus denen alle Objekte des physischen Universums zusammengesetzt sind. Traditionell und in Ausdrücken, mit denen wir sie auch bei unseren Übungen erfahren können, werden sie Erd-, Luft-, Feuer- und Wasserelement genannt. Das

Erdelement ist das Element der Ausdehnung. Wir erfahren es als Härte oder Weichheit der Objekte. Wenn wir Schmerz im Körper spüren, ist es eine Manifestation dieses Elementes. Wenn wir gehen und Kontakt mit der Erde haben, ist das Berührungsgefühl das Erdelement das Gefühl von Härte, Weichheit, Ausdehnung.

 

Zu dem Feuerelement gehören Hitze und Kälte. Bei der Meditation kann es vorkommen, daß das Feuerelement vorherrschend wird und ein Gefühl entsteht, als ob der Körper brennt. "Niemand'' brennt es ist nur das Feuerelement, das sich seiner Art gemäß manifestiert; das heißt in der Empfindung von Hitze oder Kälte.

 

Das Luftelement kennzeichnet sich durch Vibration oder Bewegung. Während der Meditation im Gehen erfahren wir das Wechselspiel der Elemente. Fuß und Bein sind Vorstellungen, Begriffe, die wir gebrauchen, wenn wir den Fluß der Elemente auf eine bestimmte Art erfahren. Es gibt keinen Fuß, kein Bein, keinen Körper, kein Selbst; nur die Erfahrung der Bewegung und die Berührungsempfindung.

 

Das Wasserelement stellt das Flüssige und Bindende dar, es ist das Element, das die Dinge zusammenhält. Wenn Sie trockenes Mehl haben, fallen die einzelnen Teile auseinander. Sie haften nicht aneinander. Fügen Sie etwas Wasser hinzu, und alle Mehlteilchen kleben zusammen. So manifestiert sich das Wasserelement: es hält alle materiellen Elemente zusammen.

 

Zusammen mit diesen vier Elementen steigen vier sekundäre Eigenschaften der Materie auf - Farbe, Duft, Ton und Nährstoff; das ganze physische Universum kann als Ausdruck dieser Elemente erfahren werden. Wir können uns ihrer bewußt werden, frei von Gedanken über sie. Der Boden existiert nicht; Boden ist eine Vorstellung. Was wir wahrnehmen, ist das Gefühl der Härte oder Kälte oder die Farbe, wenn wir ihn ansehen. Die Augen sehen Farbe. Sie sehen keinen Namen. Wenn sie draußen spazieren gehen, sehen die meisten Leute "Baum", aber es ist nur eine Verdinglichung von dem, was gesehen wird. Was wir tatsächlich sehen, ist Farbe in einer bestimmten Form. Ein anderer Gedankengang nennt es dann "Baum". "Körper" ist eine Vorstellung. Wenn wir sitzen und meditieren, schwindet der "Körper" dahin. Was wir erfahren, ist Empfindung: Hitze oder Kälte oder Schmerz oder Spannung, lediglich die Bewegung der Elemente, die alle nicht von Dauer sind, in ständigem Wechsel. Die meditative Erfahrung ermöglicht uns, daß wir beginnen, die Dinge, so wie sie sind, aus der erfahrenden, nicht vorstellungsgebundenen Ebene heraus zu erkennen, frei von Gedanken über sie. Wir werden uns bewußt, daß wir Farbe sehen, wenn wir etwas erblicken. Wenn wir etwas fühlen, erkennen wir die Art der Empfindung, ohne an einer Vorstellung zu hängen, ohne ständig Ideen in die Erfahrung hineinzuprojizieren.

 

Es ist interessant, daß Vorstellungen sich behaupten, während die Wirklichkeit sich in ständiger Veränderung befindet. Das Wort "Körper" bleibt immer gleich, aber der Körper selber ist in ständiger Verwandlung. Die Vorstellung ist statisch, aber wenn wir tatsächlich erfahren, was geschieht, entdecken wir einen Fluß von unbeständigen Elementen, ein Aufsteigen und Verlöschen von Empfindungen. Die achtsame Erfahrung der Dinge enthüllte ihre wahre vergängliche Natur. Solange wir uns noch auf der Ebene der Vorstellungen bewegen, bewahren wir die Illusion der Beständigkeit, die uns an das Rad des Lebens und Sterbens gefesselt hält.

 

Der Vorgang der Entwicklung von Einsicht und Weisheit bezieht sich auf die Erfahrung der Wirklichkeit statt der Schatten. Dann wird die wahre Art der Natur sichtbar.

 

Die zweite der absoluten Wirklichkeiten ist Bewußtsein. Bewußtsein ist dasjenige, das weiß, welches das Objekt erkennt. Manchmal haben die Menschen die Vorstellung, daß in diesem Geistigen und Körperlichen ein Bewußtsein von der Geburt bis zum Tode vorhanden ist, ein Beobachter, der alles weiß. Diese Idee ruft die Vorstellung von einem unvergänglichen Selbst hervor. Dies geschieht, wenn wir unseren Geist nicht genügend zum Schweigen gebracht haben, um das Fließen des Wissens zu sehen. In jedem Moment steigt das Bewußtsein selber auf und vergeht. Es gibt keinen Geist, der alle Phänomene betrachtet; in jedem Augenblick wird "Geist" geschaffen und vernichtet. Das Bewußtsein, das hört ist verschieden von dem Bewußtsein, das sieht oder schmeckt oder riecht oder tastet oder denkt. Es gibt verschiedene Bewußtseinsmomente, die in jedem Augenblick aufsteigen und vergehen. Wenn der Geist still wird, ist es möglich, dieses Fließen des Bewußtseins zu beobachten. Einsicht in das Fließen und die Vergänglichkeit der Eigenschaft des Wissens, das Begreifen, daß es keinen Wissenden gibt, keinen Beobachter, sondern vielmehr einen sich durch die Augenblicke fortsetzenden Prozess, löst die Vorstellung eines unvergänglichen Selbst auf.

 

Die dritte absolute Wirklichkeit sind die Geistesfaktoren. Sie sind Eigenschaften des Geistes, die bedingen, wie sich das Bewußtsein zum Objekt verhält. Immer andere Zusammenstellungen der Geistesfaktoren steigen in jedem Augenblick des Bewußtseins auf und verschwinden wieder mit ihm. Gier, Haß und Unwissenheit sind die drei Geistesfaktoren, die die Wurzeln aller unheilsamen Handlungen darstellen. Jedes unheilsame Karma oder jede unheilsame Tat wird durch eine der drei Wurzeln hervorgerufen. Zum Beispiel hat der Faktor Gier die Eigenschaft, am Objekt zu haften. Wenn Gier bei einem Bewußtseinsmoment aufsteigt, beeinflußt sie den Geist derart, daß er sich anklammert, anhaftet, ergreift und verhaftet ist. Dies ist die Natur des Gierfaktors. Er ist vergänglich, nicht das Selbst, nicht das Ich, nur ein Geistesfaktor, der seiner eigenen Art gemäß wirkt.

 

Haß ist ein Geistesfaktor, der die Eigenschaft hat, das Objekt zu verurteilen, zu mißbilligen. Widerwille, Übelwollen, Gereiztheit, Groll, Ärger, alle diese sind Ausdrücke des Geistesfaktors Haß. Auch Haß ist nicht das Ich, nicht das Selbst, nicht das Meine, er ist ein vergänglicher Faktor, der aufsteigt und vergeht.

 

Unwissenheit ist ein Faktor, der die Funktion hat, den Geist zu vernebeln, so daß wir das Objekt nicht klar sehen. Wir wissen nicht, was geschieht.

 

Es gibt auch drei heilsame Wurzeln des Geistes: Gierlosigkeit, Haßlosigkeit und Wissen oder Unverblendung. Gierlosigkeit ist die Eigenschaft der Freigebigkeit, des Nichtanhaftens und Nichtbesitzen-Wollens. Halslosigkeit ist Liebe, Güte gegenüber allen Wesen, Freundschaft. Unverblendung ist Weisheit. Weisheit hat die Funktion des klaren Sehens. Sie ist wie ein Licht im Geiste. Wenn Sie in ein dunkles Zimmer gehen, können Sie nichts sehen und fallen über alles. Wenn Sie Licht machen, werden alle Objekte klar und gut sichtbar. Dies ist die Funktion der Weisheit: den Geist zu erleuchten, damit wir den Inhalt und den Vorgang des Geistigen und Körperlichen erkennen.

 

Alle diese Geistesfaktoren sind unpersönlich und vergänglich. Es gibt keinen, der gierig ist, keinen, der haßerfüllt ist, keinen, der weise ist, keinen, der freigebig ist. Es gibt nur das Aufsteigen und Vergehen der Bewußtseinsaugenblicke, zusammen mit bestimmten Geistesfaktoren, wobei jeder sich seiner Besonderheit gemäß verhält. Woher kommt aber die Vorstellung des Selbst? Wieso sind wir so konditioniert, daß wir an die Existenz des "Ich" glauben?

 

Es gibt einen Geistesfaktor, der "verkehrte Ansicht" genannt wird; er hat die Eigenschaft, sich mit den verschiedenen, wechselnden Elementen des Geistes und des Körpers zu identifizieren. Wenn der Faktor der verkehrten Ansicht in einem Bewußtseinsmoment aufsteigt, steigt auch die Vorstellung eines Selbst auf. Aber auch er ist vergänglich und unpersönlich, zuzeiten aufsteigend und vergehend. Wenn wir im Jetzt achtsam sind, steigt keine verkehrte Ansicht auf, und wir beginnen, uns von der Bedingtheit durch "Das bin ich", "Das gehört zu mir", "Das ist das Meine" zu befreien. Jeder Augenblick der Achtsamkeit ist auch ein Augenblick der Ichlosigkeit, der Reinheit.

 

Eine Frage wird oft gestellt: "Wer ist hier achtsam?" Auch Achtsamkeit ist ein Geistesfaktor. Er hat die Aufgabe, das Objekt achtsam in dem gegenwärtigen Augenblick zu erkennen. Gurdjieff nannte diese Fähigkeit Selbsterinnerung. Es gibt keinen, der achtsam ist, es gibt nur den Ablauf eines bestimmten Faktors: eine Bewußtheit ohne anhaften, werten oder identifizieren. Im Verlauf der Entwicklung der Achtsamkeit wird die tiefere Erkenntnis erreicht, daß alle bedingten Phänomene vergänglich und ohne ein bleibendes Selbst sind.

 

Wir sind wie ein großes, sich bewegendes Puzzlespiel. Die Teile des Puzzle sind die materiellen Elemente, das Bewußtsein und die Geistesfaktoren. Wenn die Teile auf eine bestimmte Art zusammengesetzt werden, sehen wir "Mann" oder "Frau", "Baum" oder "Haus". Aber das ist nur das Bild der zusammengesetzten Stücke, die Vorstellung davon. Es sind die grundlegenden Elemente des Geistes und des Körpers, die in stetem Fluß und in ständiger Veränderung sich befindenden darunter liegenden Kräfte, welche die Wirklichkeit unserer Erfahrung schaffen.

 

Die vierte absolute Wirklichkeit ist Nirvana. Nirvana ist wie das Erlebnis einer Person, die sich restlos von allen Ketten befreit hat und aus der Höhle hinaus in das Sonnenlicht tritt, die über den bedingten geistig-körperlichen Vorgang hinweg in die Freiheit geht.

 

All diese absoluten Wirklichkeiten können erfahren werden. Die Worte, die wir gebrauchen, um sie zu beschreiben, sind Vorstellungen, die lediglich auf den Weg zur Erleuchtung deuten. Die Meditationsübung entwickelt das Bewußtwerden dieser Dinge jenseits der Worte. Wir sind alle dabei, die Ketten zu zerbrechen, die uns in der Höhle der Unwissenheit gefangen halten. Manchmal, während der Übung, scheint es so, als ob nicht viel geschieht, mit Ausnahme von Schmerz, Unruhe, Gereiztheit und Zweifel. Aber tatsächlich ist es so, daß jeder Augenblick der Achtsamkeit, jeder Augenblick der Bewußtheit hilft, die Ketten unseres Anhaftens zu schwächen. Wir bauen die Kraft der Bewußtheit auf. Und während Achtsamkeit und Sammlung intensiver werden, wird der Geist machtvoller und einsichtsvoller. Mit viel Geduld erfahren wir nach und nach den Sinn des geistig-körperlichen Vorgangs. erfahren ihn frei von Vorstellungen, frei von der Vorstellung eines Selbst; wir kommen aus dem Dunkel der Höhle in das Licht der Freiheit und des Friedens.

 

 

Wie gelangten wir von der absoluten Wirklichkeit zu dem begrifflichen Denken? Wie sind wir so weit weg von diesem sehr einfachen Vorgang, den wir alle erfahren sollten, gekommen?

Es ist nicht der Fall, daß wir aus einem Zustand der Reinheit herausgefallen sind in einen Zustand des Irrtums. Nichtwissen und Begehren sind die beiden Triebfedern, die uns seit undenkbaren Zeiten bewegt haben. Nichtwissen und Begehren treiben uns auf dem Rad der Wiedergeburt voran Die Tatsache, daß wir uns jetzt in diesem Zustand befinden, ist ja die Schwierigkeit und das Problem, vor dem wir stehen. Es gibt eine Rettung, und zwar die Auslöschung von Unwissenheit und Gier. Und dies geschieht durch Achtsamkeit auf das Geschehen auf der Erfahrungsebene.

 

 

Wie können wir in der Welt ohne Vorstellungen leben?

Bitte verstehen Sie mich richtig, Vorstellungen sollten benutzt werden. Es ist nicht so, daß wir, nachdem wir die Wirklichkeit jenseits der Vorstellungswelt erfahren haben, den ganzen Denkprozeß über den Haufen werfen. Wir brauchen die Vorgänge des Geistes, um erfolgreich in der Welt zu sein, um unser Leben zu leben. Es gibt zwei Ebenen der Wahrheit: Die eine ist die konventionelle Wahrheit, für die wir alle diese Vorstellungen wie "Mann", "Frau", "Ich", "Zeit" und "Ort" gebrauchen. Die andere ist die absolute Wahrheit, die sich auf die vier Wirklichkeiten bezieht. Wir können Vorstellungen benutzen, ohne von ihnen abhängig zu sein. Wir müssen sie als konventionelle Wahrheiten begreifen und daß es eine darunter liegende Wirklichkeit gibt. In Bodhgaya, dem Ort, wo viele von uns in Indien studierten, gab es einen Elefanten. Oft ging der Elefant die Straße entlang, wenn wir zur Stadt wollten. Wir gingen achtsam, ganz langsam, voller Aufmerksamkeit. Wenn wir den Elefanten auf uns zu kommen sahen, blieben wir nicht einfach stehen und sagten: "Sehen, Sehen"; wir gingen ihm aus dem Wege. Benutzen Sie den Gedankenablauf, wenn es angebracht ist.

 

 

Was sind Emotionen?

Emotionen sind verschiedene Geistesfaktoren. Wut, Neid, Mitleid, Freude und Liebe sind Geistesfaktoren. Alle Emotionen sind unpersönliche Eigenschaften des Geistes. Es steht keiner dahinter. Keiner ist böse, keiner liebt - es sind nur Faktoren, die ihrer Art gemäß funktionieren.

 

 

Was bedingt das Aufsteigen der Achtsamkeit?

Weisheit oder das klare Erkennen unserer Bedingtheit und ein Begreifen des Weges zur Freiheit. Der Faktor Bemühung wird ein Anlaß dazu, daß Achtsamkeit aufsteigt. Glauben und Vertrauen können auch ein Anlaß sein, die Bemühung zur Achtsamkeit zu erwecken.

 

 

Können Sie etwas über Liebe sagen?

Der Ausdruck der Leerheit ist Liebe, da Leerheit bedeutet, daß Sie ohne "Selbst" sind. Wenn es kein Selbst gibt, gibt es auch keinen Anderen. Diese Dualität wird durch die Vorstellung eines Selbst, des Ich oder Ego, hervorgebracht. Wenn kein Selbst vorhanden ist, ist eine Einheit, eine Verschmelzung da. Ohne den Gedanken "Ich liebe jemanden" wird Liebe zum natürlichen Ausdruck dieser Einheit.

 

 

Wenn die Achtsamkeit auf das Bewußtsein gerichtet ist, was ist da achtsam?

Achtsamkeit ist ein Geistesfaktor, der sich seiner Art gemäß erinnert, was das Objekt ist, und dem Geist nicht gestattet zu vergessen. Die Achtsamkeit kann auf das Objekt gerichtet sein, sie kann auch auf das Bewußtsein gerichtet sein, es erkennen. Im allgemeinen ist es leichter, das Objekt zu betrachten, weil es greifbarer ist. Wenn der Geist sehr still ist, können Sie bemerken, wie die Fähigkeit zu wissen aufsteigt und vergeht. Gerade an diesem Punkt wird es interessant, da wir hier unsere Identifizierung mit dem Bewußtsein, mit dem als Ich empfundenen Wissen, eine sehr subtile Identifizierung, unterbrechen können. Es ist einfach, in sich zu ruhen und das Fließen der Dinge zu betrachten und dabei immer noch das Gefühl zu haben, daß da ein Beobachter ist. Aber tatsächlich gibt es keinen Beobachter. Es gibt nur Wissen, in jedem Moment aufsteigend und vergehend. Wissen oder Bewußtheit ist ebenfalls ein Vorgang. Es ist vergänglich, unpersönlich, nicht das Ich, nicht das Selbst .

 

 

Was ist Erinnerung? Wohin gehört sie?

Erinnerung ist ein komplizierter Vorgang einiger bestimmter Geistesfaktoren, die meistens mit Wahrnehmung verbunden sind. Wahrnehmung ist ein Geistesfaktor, der die Eigenschaft des Erkennens hat, der die bestimmten Merkmale eines Objektes aufnimmt. Mit dem Geistesfaktor der Wahrnehmung erkennen wir durch die Erfahrung vorhergegangener Bewußtseinsmomente, was ein Objekt ist. Erinnerung gehört zu einer Gruppe von Gedanken, die als Objekt etwas nehmen, was bereits erfahren ist.

 

 

Woher kommt es, daß eine Person zu einer bestimmten Art des Verhaltens neigt?

Die dauernde Wiederholung bestimmter Willenshandlungen führt zu Neigungen. Zur Zeit stärken wir Achtsamkeit, Sammlung uhd Einsicht und entwickeln eine Neigung zu Weisheit und Verständnis. Genauso haben wir in der Vergangenheit durch die Wiederholung bestimmter Arten von Willensäußerungen und Handlungen unsere unterschiedlichen Persönlichkeiten begründet, unsere Neigungen, bestimmte Dinge zu tun. Persönlichkeit kann man als diese innewohnenden Neigungen auffassen. Es gibt keine Einzelheit, welche die Persönlichkeit ausmacht, obwohl ein bestimmter Geistesfaktor gelegentlich vorherrschen kann. Bei einem Menschen, der Gier stark werden läßt, der ständig anhaftet und ergreift, der sich anklammert und unachtsam ist, wird der Faktor Gier sehr ausgeprägt werden. Bald wird er sich in allen seinen Handlungen manifestieren. Wenn Gierlosigkeit oder Haßlosigkeit gepflegt wird, dann wird sie die vorherrschende Neigung sein und sich als Persönlichkeit ausdrücken.

 

 

Wann tritt der Faktor Wille auf?

Wille ist ein weiterer Geistesfaktor. Es gibt verwickelte Verbindungen zwischen all den verschiedenen Geistesfaktoren. Wille gibt es, es gibt einen ganzen Entscheidungsvorgang, Bemühung gibt es. Sie manifestieren sich ihrer Art gemäß. Ein direkter Anlaß zur Entfaltung der Achtsamkeit, so wird gesagt, ist das Hören der Lehre, des Dharma. Dadurch wird der Faktor Bemühung aufsteigen. Buddha sprach oft von dem großen Vorteil, der durch das Hören des Dharma entsteht. Der Faktor Bemühung wird erweckt, der Achtsamkeit zu entwickeln beginnt. Die Geistesfaktoren, "Wille" eingeschlossen, sind latent im Geiste vorhanden. Wir brauchen nichts zu tun, um die Faktoren zu erschaffen. Es kommt nur darauf an, welche Faktoren wir entwickeln wollen. Bestimmte Entscheidungen werden durch das Hören des Dharma beeinflußt, wenn Sie verstehen, worum es geht. Es führt zum Aufsteigen des Bemühens, Achtsamkeit und Bewußtheit, Einsicht und Weisheit zu entwickeln Es gibt eine Stanze im Dhammapada, die lautet: "Es gibt Handeln ohne einen Handelnden, Tun ohne einen Täter, Leiden ohne einen Leidenden, Erleuchtung ohne einen Erleuchteten."

 

 

Was ist Intellekt?

Der Intellekt ist die Gedanken- und Vorstellungsebene des Geistes. Sie kann geschult, entwickelt und benutzt werden; sie kann auch ein Hindernis sein. Es hängt davon ab, wie klar uns der Denkvorgang ist. Wenn eine klare Einsicht in seine wahre Natur besteht, ist er überhaupt kein Hindernis. Wenn wir die Gedanken über die Dinge mit den Dingen selber verwechseln, wird er eine Behinderung, da dann die Vorstellung mit der Wirklichkeit verwechselt wird. Aber an sich ist er nur ein weiterer Teil des gesamten geistig-körperlichen Vorgangs. Es gibt ein Wort des dritten Zen-Patriarchen "Nicht einmal die Welt der Sinne und Vorstellungen sollte man ablehnen. In der Tat, sie voll akzeptieren ist identisch mit wahrer Erleuchtung."


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