Vipassanā Meditation

Sechster Morgen - Unterweisung: Sinnenobjekte

 

Steigen während der Übungen visuelle Bilder auf, bemerken Sie nur "Sehen, Sehen", ohne den Inhalt zu bewerten oder darüber zu urteilen. Beobachten Sie lediglich das Aufsteigen und Vergehen der Bilder. Wenn Geräusche vorherrschend sind, bemerken Sie "Hören, Hören", ohne sich die Ursachen vorzustellen oder sie zu untersuchen. Wenn ein Geruch oder Duft wahrnehmbar ist, konstatieren Sie "Riechen, Riechen" und wenden Ihre Aufmerksamkeit wieder der Atmung zu. Je genauer Sie die Achtsamkeit auf das Hauptobjekt gerichtet halten, desto schneller nimmt der Geist alle anderen Objekte auf.

 


Siebter Nachmittag - Geschichten

 

Sie können die Triebkraft der Bewußtheit dadurch verstärken, daß Sie mehr und öfter aufmerken. Zu Beginn der Übung bemerken Sie in ziemlich langen Zeitspannen zuerst ein Objekt und etwas später ein weiteres. Die Übung entwickelt sich, wenn die Häufigkeit des Konstatierens der Objekte zunimmt, so daß das Registrieren von Moment zu Moment geschieht, in jedem Augenblick die verschiedenen Objekte wahrgenommen werden, der Fluß des Atems oder Körperempfindungen oder Gedanken. Durch die Übung entwickelt sich die Art der Achtsamkeit, die klar und deutlich das Fließen der Phänomene erfährt. Buddha gab ein Beispiel dafür, wie achtsam wir sein sollten. Er berichtete von einem Menschen, dem befohlen worden war, mit einem bis an den Rand mit Wasser gefüllten Gefäß auf dem Kopf über einen sehr belebten Marktplatz zu gehen. Hinter ihm ging ein Soldat mit einem großen Schwert. Wäre ein einziger Tropfen Wasser verschüttet worden, hätte der Soldat ihm den Kopf abgeschlagen. Ganz bestimmt ging der Mann mit dem Krug äußerst achtsam. Aber es muß eine gelöste Art der Achtsamkeit sein. Wenn zu viel Anstrengung oder Verkrampfung dabei ist, genügt der kleinste Anstoß, um das Wasser zu verschütten. Der Mensch mit dem Krug mußte locker und gleichmäßig gehen, mit der wechselnden Umgebung fließen, jedoch in jedem Augenblick sehr achtsam sein. Das ist die Art der Bemühung, die Sie bei der Entwicklung der Bewußtheit haben sollten: entspannte Wachsamkeit.

 

Die Entwicklung der Bewußtheit in jedem Augenblick schließt eine gewisse Anstrengung ein. Es ist nicht die Anstrengung, etwas für die Zukunft erreichen zu wollen. Die Bemühung besteht darin, in der Gegenwart zu verbleiben, mit Gleichmut auf das zu achten, was im Moment geschieht.

 

Es gibt eine Geschichte über jemanden, der schon einige Zeit geübt hatte und nun einen Zen-Meister besuchen wollte. Es regnete, und als er zur Tür hineintrat, ließ er seine Schuhe und seinen Regenschirm draußen. Nach dem ersten Höflichkeitsaustausch fragte ihn der Meister, auf welcher Seite seiner Schuhe er seinen Schirm abgestellt habe. Er konnte sich nicht erinnern. Es wird gesagt, daß er davonging, um für weitere sieben Jahre seinen Zen in jedem Augenblick zu verbessern.

 

Es ist wichtig, eine ständige, durchdringende Bewußtheit in bezug auf alles, was wir tun, zu entwickeln, vom Aufwachen am Morgen bis zur Zeit des Schlafengehens. Beim Aufwachen bemerken Sie gleich "Heben, Senken" oder "ein, aus", und von diesem Augenblick an sind Sie achtsam auf alle Tätigkeiten, die mit dem Aufstehen und Waschen verbunden sind; der Beginn des Gehens, die Absicht, sich hinzusetzen und dann wieder zu stehen und Essen zu gehen. Wenn Sie sich schlafen legen, halten Sie das "Heben, Senken" oder "ein, aus" bis zum letzten Augenblick, bis Sie einschlafen. Diese Art der Aufmerksamkeit wird Ihnen sehr bei der Meditationsübung helfen. Wenn Sie die Vorstellung hegen, daß die Übung nur aus Sitzen und Gehen besteht und die andere Zeit unwichtig ist, dann verlieren Sie durch alle diese Unterbrechungen den Antrieb, der sich aufgebaut hat. Den ganzen Tag hindurch, bei jeder Handlung eine starke Bewußtheit aufzubauen, verhilft dem Geist dazu, gesammelt und still zu sein. Aus dieser Art der Entschlossenheit und des Gleichgewichts des Geistes entsteht Erleuchtung.

 

Es gibt gar nichts, das der Achtsamkeit unwert ist. Das plötzliche tiefe Erkennen der Wahrheit kann in einem Moment aufblitzen, wenn alle Faktoren der Erleuchtung gereift sind und in rechtem Gleichgewicht zusammentreffen.

 

Es gibt eine Geschichte über Ananda, den persönlichen Helfer Buddhas, der auf Buddhas Bedürfnisse achtete und alles für ihn tat. Weil er dem Buddha diente, hatte er nicht viel Zeit zum Üben. Alle seine Freunde waren bereits erleuchtet, und er war immer noch am Anfang. Erst nachdem Buddha gestorben war, hatte er die Gelegenheit, intensiv zu üben. Einige Zeit nach Buddhas Tod riefen die Mönche ein großes Konzil zusammen, um alle Reden Buddhas zu rezitieren, damit sie nicht vergessen würden. 499 Mönche wurden ausgesucht, die alle voll erleuchtet waren und über psychische Kräfte verfügten, und auch Ananda. Sie wählten Ananda, da er stets gegenwärtig gewesen war, wenn Buddha gesprochen hatte, und weil er ein vollkommenes Erinnerungsvermögen besaß. Obwohl er nicht voll erleuchtet war, war er doch von Nutzen für das Konzil. Als der Tag der Versammlung heranrückte, drängten alle Mönche Ananda, seine Übungen zu intensivieren. In der Nacht vor dem großen Konzil bemühte sich Ananda besonders eifrig. Er übte die Gehmeditation. "Heben, Vorwärtstragen, Aufsetzen." Es war Mitternacht, es war ein, zwei Uhr morgens, und es war immer noch nichts geschehen. Um vier Uhr morgens überdachte Ananda die Situation. Er war sehr weise und hatte alle Lehren Buddhas gehört. Er erkannte, daß sein Geist nicht ausgeglichen war. Er bemühte sich zu sehr, ohne genügend auf Sammlung und Stille zu achten. In seinem Geist war zuviel Erwartung und Voraussicht. Er meinte, niederlegen und meditieren wäre gut, um diese Faktoren ins Gleichgewicht zu bringen. Sehr achtsam ging er zu Bett und betrachtete dabei den ganzen Ablauf. Und es wird gesagt, daß, gerade als sein Kopf das Kissen berühren wollte, noch bevor seine Füße im Bett waren, in diesem Moment, er die höchste Wahrheit erfuhr und daß zusammen mit seiner Befreiung auch die psychischen Kräfte auftraten. Es war gerade vier Uhr morgens, und bis sechs oder sieben genoß er die Freuden des Nirvana, des Friedens. Am Morgen erschien er spontan an seinem Platz im Konzil, und alle erkannten Anandas Errungenschaft .

 

Sie können nicht wissen, wann die Nebel der Unwissenheit sich lichten werden. Es kann sogar in dem Moment geschehen, wenn Sie sich schlafen legen. Seien Sie achtsam! In jedem einzelnen Moment, seien Sie wachsam, klarbewußt über das Geschehen. Diese Art der täglichen Übung bildet eine außergewöhnliche Kraft des Geistes. Nutzen Sie die Vorteile dieses Seminars ganz aus: Vergeuden Sie keine Zeit und denken Sie nicht, daß Sie genug getan haben. Wenn Sie sich spät abends nicht müde fühlen, dann fahren Sie mit der Übung fort. Oft sind die späten Nachtstunden die besten zum Meditieren. Sie sollten die größte Bemühung einsetzen, ohne zu forcieren und ohne Spannungen zu schaffen. Als ich in Indien war und zu Üben anfing, hatte ich einen Freund, der mir gegenüber in der Halle wohnte. Er war ein Vorbild an Beharrlichkeit. Jedesmal wenn ich ihn erblickte, meditierte er. Abends um zehn oder elf war ich soweit, daß ich schlafen wollte. Aber dann sah ich sein Licht brennen und fühlte mich ermutigt fortzufahren, und ich stand auf vom Sitzen und ging eine Weile. Nach dem Gehen waren mein Geist und Körper wieder voller Energie, und ich konnte wiederum ein bis zwei Stunden sitzen. Ich saß, ging und saß. Auf diese Art kam ich soweit wie möglich voran, und es war sehr wertvoll. Sammlung und Achtsamkeit haben eine aufspeichernde Wirkung, so daß am Ende eines Übungstages, in den Nachtstunden, der Geist eine durchdringende Kraft besitzt. Wenn Sie merken, daß dies geschieht, fahren Sie bitte mit der Übung fort. Sitzen und gehen Sie soviel wie möglich. Es gibt viele Dinge zu erfahren, und viele Ebenen des Geistes.

 

In vielen Meditationszentren in Burma beginnen die Yogis mit vier Stunden Schlaf, und im Verlauf der Meditation brauchen sie immer weniger. Wir sollten nicht in die Falle unserer Gewohnheiten gehen und meinen, daß, wenn wir nicht sieben oder acht Stunden Schlaf haben, wir erschöpft sein werden. Das ist lediglich ein eingefahrenes Verhaltensmuster. Wenn der Geist den ganzen Tag ausgeglichen ist, nicht haftet, nicht wertet, sich nicht mit den Dingen identifiziert, sammelt sich fast keine Ermüdung oder Verspannung an. Mein Lehrer erzählte mir, daß er, als er in Burma lernte, fünf Tage ohne Schlaf verbrachte, ohne überhaupt müde zu sein. Er arbeitete systematisch und gleichmäßig, führte genau diese gleiche Vipassanā-Übung aus, die Übung der Achtsamkeit. Achten Sie auf den Wandel in Ihnen, und wenn Sie nicht müde oder schläfrig sind, üben Sie weiter, die ganze Nacht.


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