SUTTA-NIPĀTA, Lehr-Dichtungen

3. Der Titel "Sutta-Nipāta"

 

Sutta (Sanskrit: sūtra) bedeutet wörtlich "der Faden". Will man diesen bildhaften Ausdruck auf den buddhistischen Gebrauch dieses Wortes beziehen, so hat man an eine zusammenhängende Lehrdarlegung zu denken, durch die sich ein gemeinsamer Faden hindurchzieht.

 

Unterschiedlich hiervon bedeutet sūtra im nicht-buddhistischen Sanskrit einen kurzgefaßten Aphorismus oder Lehrsatz, meist in Versform, der den "roten Faden" in der längeren Darlegung des Lehrers bildet und als Merksatz oder Merkvers dient. Oft ist dieser "Einzel-Faden" mit anderen zusammen zu einer Gesamtdarstellung des betreffenden Themas verwoben, so z.B. im Yoga-Sūtra des Patanjali, wobei man an die Bedeutung "Leit-Faden" denken mag.

 

Beim Pali-Wort Sutta denkt man heute vor allem an die den Hauptteil des Sutta-Pitaka bildenden Texte, wie die Prosa-Lehrreden oder Dichtungen wie das Mettā-Sutta. In früherer Zeit hatte das Wort allerdings eine weiter gefaßte Anwendung. So werden im Vinaya-Pitaka die einzelnen Regeln des Pātimokkha, der "Liste der Ordensvergehen", gleichfalls Sutta genannt, und ihr kanonischer Kommentar heißt entsprechend Sutta-Vibhanga, d.i. "Erklärung der (Pātimokkha-) Sutten". Dies mag vielleicht auf die Sanskrit-Bedeutung "kurzer Lehrsatz" zurückgehen. Buddhaghosa, der große Kommentator des 5. Jahrhunderts n. Chr., nennt als Beispiele für die Anwendung des Wortes Sutta Teile des Vinaya (Sutta-Vibhanga, Khandaka, Parivāra) und einige Dichtungen des Sn. Man wird also für diesen Begriff eine Wiedergabe allgemeinen Charakters, wie "Lehrtext" wählen müssen. Da aber dieser Ausdruck wiederum zu weit und unbestimmt ist, dürfte es die beste Lösung sein, dem Vorschlage des Ehrw. Nyanatiloka zu folgen und das Wort als "die Sutte" in die deutsche Sprache einzubürgern.

 

Nipāta, der zweite Wortbestandteil unseres Titels, kann in unserem Zusammenhang aufgefaßt werden 1) als Anthologie, 2) als Abschnitt oder Kapitel. Diese zweite Bedeutung hat das Wort z.B. im Anguttara-Nikāya, der "Sammlung der angereihten Lehrtexte", deren einzelne Bücher Ekaka-Nipāta, Duka-Nipāta usw. genannt werden, d.h. Einer-Kapitel, Zweier-Kapitel usw.; ferner auch in Jātaka, Thera-Theri-Gāthā usw. Daß das Wort in dieser Bedeutung einen kleinen Abschnitt, eine Unterabteilung eines größeren Werkes bezeichnet, darauf deutet auch hin, daß Nipāta als grammatischer Terminus "Partikel", d.h. einen kleinen Satzteil, bedeutet. Es ergeben sich somit als mögliche Übersetzungen des Gesamt-Titels: 1) Sutten-Anthologie oder -Sammlung; 2) Sutten-Abschnitte oder -Kapitel. K.E. Neumanns Wiedergabe mit "Sammlung der Bruchstücke" ist irreführend, da es sich bei unserem Werk nicht um Fragmente, d.h. Unvollendetes oder unvollendet Erhaltenes, handelt, sondern um in sich abgeschlossene Einzeltexte, die, in Kapitel (nipāta) zusammengefaßt, eine Anthologie bilden.

 

Buddhaghosa gibt in den Einleitungsversen seines großen Kommentars zum Sn eine Erklärung des Titels. Die folgenden Verse hieraus (in wörtlicher Prosa-Übersetzung) sind eine Bestätigung unserer Wiedergabe von nipāta mit "Anthologie":

 

"Derartige Sutten von hier und dort zusammengetragen habend (nipātetva), wurde dieses (Sutta-Nipāta) rezitiert (sangīto); nämlich auf dem Konzil (=sangīti) und erhielt daher diesen Namen.

 

Dies alles sind, im Sinne der (vorhergehenden) Definition 'Sutten', Worte des Vollkommenen, und dieses (Buch) ist ihre Sammlung (oder Anthologie; nipāto) von hier und dort."

 

"Tathārūpāni suttāni nipātetvā tato tato
sangīto ca ayarn tasmā sankham evam upāgato.
Sabbāni cāpi suttāni pamānattena tādino
vacanāni ayam tesam nipāto ca yato tato."

 

Am Schluß dieser Einleitungs-Verse bemerkt Buddhaghosa zu dem so wenig charakteristischen Titel unseres Buches:

 

"Wegen der Abwesenheit besonderer Merkmale für eine andere Bezeichnung bekam es eben diesen Namen Sutta-Nipāta."


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