Augenblicke der Wahrheit

25. DER WELTGEIST IM INDIVIDUELLEN GEIST

 

Die Seele im Menschen, das Überselbst, ist verbunden mit oder verwurzelt in der Seele im Universum, dem Weltgeist .

Vereinigung mit dem Überselbst ist nicht das letzte, sondern ein vorletztes. Das, zu dem wir als dem Überselbst aufschauen, schaut seinerseits auf zu einer anderen und höheren Wesenheit.

Wenn es stimmt, daß es zu einem völligen Verschmelzen kommt, wenn das individuelle Selbst wirklich mit der Erreichung des göttlichen Bewußtseins vergeht, wessen war sich dann dieses Selbst in der Erfahrung des Erreichens bewußt? Nein - nur das niedere persönliche Selbst wird transzendiert; die höhere spirituelle Individualität nicht.

Nicht deshalb wird die einzelne Geistgröße ausgesondert und macht sie in zahlreichen Wandlungen ihres Zustands ihre lange Evolution durch, um wieder so vollständig in ihrem Ursprung aufzugehen, daß sie buchstäblich ausgelöscht wäre, sondern um mit diesem Ursprung bewußt in Harmonie zu sein und dabei gleichzeitig ihre Individualität zu behalten. Es besteht ein gewisser Unterschied zwischen der eigenen höheren Individualität und dem universellen Unendlichen, von dem sie ausgestrahlt wird - die Anhänger des Vedanta mögen sagen, was sie wollen. Und dieser Unterschied bleibt auch im höchsten mystischen Zustand erhalten, der nicht durch totale Einverleibung und gänzliche Vernichtung dieser Individualität gekennzeichnet ist, sondern durch das Aufgehen des eigenen Willens im universellen Willen, die engste Innigkeit des eigenen Seins mit dem universellen Sein.

Die Philosophie weist entschieden all jene vedantischen pantheistischen Vorstellungen und abendländischen mystischen Torheiten zurück, die den Menschen vergotten und ihn mit Gott gleichsetzen wollen. Sie erklärt, daß die Sätze, in denen diese Auffassungen Gestalt gewonnen haben, etwa das indische «Das bist du», das persische «Ich bin Gott» und die mittelalterliche europäische «Vereinigung mit Gott», Übertreibungen der Wahrheit sind, die so aussieht: Gott ist uns innig, durch Erkenntnis unseres höheren Selbst werden wir gottgleicher, aber niemals hört Gott auf, der Unerreichbare, der Unfaßbare zu bleiben.

Kein Sterblicher kann das Geheimnis des höchsten Geistes in seiner eigenen Natur durchdringen, das heißt in seinem statischen, inaktiven Sein. Die Gottheit ist nicht nur über das menschliche Vorstellungsvermögen erhaben, sondern auch über die mystische Schau. Aber der Geist in seinem aktiven, dynamischen Zustand als Weltgeist (und gar sein Strahl in uns namens Überselbst) liegt durchaus im menschlichen Wahrnehmungsbereich und läßt auch eine Gemeinschaft und sogar eine Vereinigung zu. Er ist es, den der Mystiker wirklich findet, wenn er glaubt, Gott gefunden zu haben.

Metaphysisch gesehen, gibt es nichts dergleichen wie eine menschliche Erscheinung Gottes, wie ein Herniedersinken des unendlichen Geistes ins endliche Fleisch. Dieser Irrglaube wird von den Bahais in ihrer Manifestationslehre, von den Christen in ihrer Menschwerdungslehre und von den Hindus in ihrer Avatarlehre als eine heilige Wahrheit verbreitet. Gott kann nicht im Fleisch geboren werden, kann nicht menschliche Gestalt annehmen. Wenn Er sich so begrenzen könnte, wäre Er nicht mehr Gott. Denn wie könnte der Vollkommene, der Unfaßbare und der Unvorstellbare unvollkommen, faßbar und vorstellbar werden?

Und doch brennt etwas Feuer hinter diesem Rauch. Von Zeit zu Zeit wird ein Mensch geboren, der dazu auserwählt ist, einem bestimmten Volk, Landstrich oder Zeitalter einen spirituellen Anstoß zu geben. Er ist mit einer besonderen Lehr- und Heilssendung betraut und mit besonderer Kraft von der universellen Intelligenz erfüllt, um sie auch ausführen zu können. Er muß Samen pflanzen, die sich langsam zu Bäumen auswachsen und deren Früchte einmal Millionen von noch ungeborenen Menschen speisen werden. In diesem Sinne ist er anders als jeder andere vom Überselbst Inspirierte und, wenn man so will, jedem solchen überlegen. Aber dieser Unterschied oder diese Überlegenheit ändern nichts an seinem Menschsein, machen ihn dennoch zu nicht mehr als zu einem Menschen, mag sich Gott seiner auch noch so sehr bedienen und ihn ermächtigen. Ein solcher Mensch wird für sich keine wesenhafte Überlegenheit über andere Menschen beanspruchen; im Gegenteil, er wird unumwunden zugeben, daß auch sie den gleichen Zustand der Inspiration erlangen können, der ihm eigen ist. Daher bekannte Muhammed wiederholt: «Ich bin nur ein Mensch wie ihr. Aber mir werden Offenbarungen zuteil.» Und der zehnte Guru der Sikhs erklärte: «Wer mich den Höchsten Herrn nennt, wird zur Hölle fahren.»

Kein menschlicher Tempel kann das unendliche Wesen in seinen beengenden Mauern aufnehmen. Kein Sterblicher ist je die Inkarnation der allübersteigenden Gottheit gewesen oder könnte sie je sein. Kein irdisches Fleisch, keine menschliche Intelligenz hat das Recht, sich mit dem unerkennbaren Urgrund zu identifizieren. Nur in der Metaphysik der Wahrheit ungeschulte Geister konnten die gegenteilige Meinung hegen. Die weite Verbreitung dieser Meinung beweist, wie wenige je eine solche Schulung besaßen, und die weite Verbreitung der Entartungen und Wirren, die einer solchen Menschenverehrung stets auf dem Fuß folgten, erweist sie als Trugschluß.

Keine Bekanntmachungen verraten der Welt, daß man zur Erleuchtung gekommen ist. Keine Herolde blasen die Posaunen und verkünden des Menschen größten Sieg über sich selbst. Dies ist in Wirklichkeit der stillste Augenblick im ganzen Leben.

Nach der allgemeinen Ansicht in den breiten Massen und religiösen Kreisen Indiens wird der höchste Stand der Erleuchtung in einer Art Trance (Samadhi) erlangt. Dies ist nicht die Lehre in den höchsten philosophischen Kreisen Indiens. Es gibt einen weiteren Zustand, «Sahaja-Samadhi», der in wenigen, kaum bekannten Texten beschrieben wird und als höher gilt. Er wird hoch geschätzt, weil er keine Trance erfordert und weil er ein dauernder Zustand ist. Der niedrigere Zustand ist dadurch gekennzeichnet, daß man phasenweise in ihn eingeht und ihn wieder verläßt: Man kann ihn sich nicht bewahren, ohne in die Trance zurückzukehren. Im Gegensatz dazu bleibt der philosophische «vierte Zustand» selbst dann ungebrochen, wenn man in der geschäftigen Welt rege und wach ist.

Sahaja-Samadhi ist nicht zeitlich befristet, er ist permanent und bedarf keiner besonderen Anstrengung. Er tritt schlagartig und nicht stufenweise ein. Er kann das tägliche Tun begleiten, ohne es zu beeinträchtigen. Er ist eine beständige Ruhe und vollkommene innere Stille. Es gibt keine Kennzeichen, an denen ein außenstehender Betrachter einen sahaja-bewußten Menschen erkennen kann, weil Sahaja das Bewußtsein selbst darstellt und nicht seine vorübergehenden Zustände.

Der wahre Adept verkauft weder die Geheimnisse seines Wissens noch seine Kräfte zum Gebrauch. Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist der, daß er sich selbst schaden würde, denn er würde den Anschluß an die Quelle seines Wissens und seiner Kraft verlieren. Er besitzt diese nicht an sich, sondern weil das höhere Selbst von ihm Besitz ergriffen hat. Von dem Moment an, da er versuchte, weltlichen Profit daraus zu ziehen, würde es sich nach und nach von ihm zurückziehen. Ein weiterer Grund ist der, daß er sein Vorrecht, die reine Wahrheit zu sagen, verlieren würde. In dem Maße, wie er auf Käufer dafür angewiesen wäre, müßte er sie nach ihren Geschmäckern und Vorurteilen modeln und daran anpassen; andernfalls würden sie sie nicht haben wollen. Er müßte sein Wissen ihren Schwächen gemäß umgestalten. Dem Amt, die Wahrheit zu lehren, könnte er nur insoweit nachkommen, als er seine ureigene Pflicht, die Wahrheit zu verwirklichen, vernachlässigte. Denn da er gerade die Wahrheit ohne Bezahlung empfangen hat, muß er auch gerade sie ohne Bezahlung geben. Dies ist das Gesetz, das ihre Verteilung regiert. Jeder, der es verletzt, beweist durch eben diese Übertretung, daß er die Wahrheit in ihrer ganzen leuchtenden Reinheit nicht besitzt.

Es gibt bemerkenswerte Unterschiede zwischen dem echten Erleuchteten und dem falschen. Aber ich werde nur einige der Punkte angeben, die man an demjenigen feststellen kann, der sich wirklich selbst erkannt hat. Zuallererst einmal trachtet er nicht danach, der Führer eines neuen Kultes zu werden; daher ergeht er sich in keinerlei Versuch, öffentliches Interesse oder Aufsehen zu erregen, wodurch sich unsere modernen Heilande auszeichnen. Niemals versucht er, durch Wunderlichkeit in Lehren, Reden, Kleidung oder Gehabe die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ja, er trachtet nicht einmal danach, als Lehrer aufzutreten, sucht keine Anhänger und fordert keine Schüler auf, sich ihm anzuschließen. Obwohl er über gewaltige spirituelle Kraft verfügt, die vielleicht unser Leben unwiderstehlich beeinflußt, erweckt er den Anschein, sich dessen gar nicht bewußt zu sein.

Der echte Erleuchtete erhebt keinerlei Anspruch auf den Besitz besonderer Kräfte. Posen und Verstellungen sind ihm völlig fremd. Die Dinge, die in den Menschen Leidenschaft oder Liebe oder Haß erregen, scheinen ihn nicht zu berühren; er steht ihnen so teilnahmslos gegenüber wie die Natur unseren Reden, in denen wir ihren Sonnenschein loben oder auf ihre Stürme schimpfen. Denn in ihm müssen wir einen befreiten Menschen erkennen, jeder Begrenzung ledig, die Begierde und Emotion uns auferlegen können. Enthoben den ängstlichen Gedanken oder verführerischen Leidenschaften, die die Herzen der Menschen aushöhlen, wandelt er dahin. Obwohl er schlicht und natürlich auftritt und lebt, merken wir, daß in diesem Mann ein Geheimnis steckt. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, daß wir bei etwaigen Versuchen, ihn begreifen zu wollen, zum Einhalten gezwungen wären, weil sein Verständnis das Leben tiefer ausgelotet hat, als das bei anderen Menschen der Fall ist.

Sein innerer Zustand wird für andere nicht leicht auszumachen sein, es sei denn, sie gehörten zu den wenigen, die selbst weit genug fortgeschritten und empfänglich genug sind, um ihn richtig beurteilen zu können. Gleichwohl ist es seine Pflicht, die wunderbare Neuigkeit zu verkünden, daß er diesen Zustand gefunden hat, die titanische Tatsache bekannt zumachen, daß es ihn wirklich gibt. Aber er wird das auf eigene Art tun, seinen Charakterzügen und Lebensumständen gemäß. Er wird es nicht in einer Ansprache verkünden oder in einem Buch drucken lassen müssen; er wird die Tatsache nicht in den Tageszeitungen veröffentlichen oder von den Dächern schreien. Sein ganzes Leben wird die beste Verkündung, die großartigste Veröffentlichung sein.

So wunderbar ist die Unendlichkeit der Seele, daß ein Mensch, dem es gelingt, sich in seinem alltäglichen Bewußtsein mit ihr zu identifizieren, auch imstande ist, seinen Einfluß und seine Inspiration überall dort in der Welt spürbar zu machen, wo es jemanden gibt, der auf ihn vertraut und ihm ergeben ist. Seine körperliche Anwesenheit ist nicht unbedingt erforderlich. Die Seele ist sein wirkliches Selbst und wirkt auf unterbewußten Ebenen. Ein jeder, der diese Wahrheit anerkennt und dem spirituellen Adepten gegenüber bescheiden und harmonisch eine passive, empfängliche Haltung einnimmt, findet eine Quelle segensreicher Hilfe außerhalb seiner eigenen begrenzten Kräfte.

Warum, wenn denn Gedankenübertragung eine Tatsache ist, warum, so werden wir gefragt, sollte dann der sich vergrabende Einsiedler nicht nach wie vor den höchsten Stand verkörpern, den ein Mensch erreichen kann, warum sollte er nicht wirklich so antisozial sein, wie er oberflächlich gesehen wirkt? Er mag sich in einer Berghöhle versteckt halten, aber hat nicht sein Geist die Freiheit, umherzuschweifen, wie es ihm gefällt, und hat er nicht durch seine mystischen Übungen seine Kraft aufs höchste gesteigert? Wir erwidern, daß dann, wenn es ihm bloß darum zu tun ist, ungestört von Gedanken an andere in seiner inneren Ruhe zu weilen, der von ihm erreichte Stand nur einer der Selbstbezogenheit ist.

Es herrschen unter Schülern viele verworrene Vorstellungen über diese Yogis, die angeblich in ihrer Einsamkeit den Menschen auf telepathischem Wege helfen. Es sind nicht nur einsame Yogis, die das tun. Und man muß auch nicht einsam sein, um das zu können. Die Wahrheit ist, daß die meisten Yogis, die in der Einsamkeit leben, sich noch im Schülerstadium befinden, sich noch zu entwickeln suchen. Und selbst in den selteneren Fällen, wenn ein Yogi sich in der Meditation vervollkommnet hat, kann es sein, daß ihm diese nur dazu dient, egoistisch um sein eigenes Wohl besorgt und ohne einen Gedanken an andere in innerem Frieden zu schwelgen. Nur wenn jemand ein philosophischer Yogi ist, wird er seine Zustände meditativer Selbstversunkenheit mit Bedacht darauf verwenden, einzelne aufzurichten und zum Wohl der Menschheit zu wirken. Wenn der Mystiker seine geistigen Kräfte tatsächlich für altruistische Ziele gebraucht, wenn er tatsächlich aus der Ferne anderen auf telepathischem Wege hilft, dann hat er sich über die gewöhnliche mystische Ebene erhoben und wir ehren ihn dafür.

Der Adept wird nicht versuchen, einen anderen Menschen zu beeinflussen, und noch weniger, ihn zu beherrschen. Dazu, einem anderen durch dessen Erleuchtung zu dienen, gehört deshalb nach seiner Auffassung keine Proselytenmacherei, sondern vielmehr das Amt des Lehrens. Ein solcher Dienst hilft einem Menschen, selbst zu verstehen und selbst zu sehen, was er zuvor nicht sehen und verstehen konnte.

Der Adept gebraucht dazu nicht nur die gewöhnlichen Methoden des Redens, des Schreibens und des Beispiels, sondern viel mehr noch außergewöhnliche Methoden, deren sich nur ein Adept bedienen kann. Er versetzt sich gegenüber dem Ich der anderen Person in eine passive Haltung und registriert so Charakter, Denken und Fühlen in einem raschen allgemeinen Eindruck, der sich in seinem Bewußtsein wie eine Photographie auf einem lichtempfindlichen Film niederschlägt. Er begreift ihn als ein Bild der Entwicklungsstufe, die die andere Person erreicht hat, aber er begreift ihn auch als ein Bild des falschen Selbst, mit dem sich die andere Person identifiziert. Einerlei, wie viel Sympathie er für den anderen Menschen empfindet, einerlei, wie negativ die Emotionen oder die Gedanken sind, die er in seinem eigenen Sein wiedergegeben findet, es bleibt ohne Auswirkung auf ihn. Dies kommt daher, daß er über die Begierden und die Illusionen hinausgewachsen ist, die noch über den Geist des anderen Menschen herrschen.

Beim nächsten Schritt seiner Technik zeiht er jenes Selbst der Angst um seine unwürdige und letztendlich dem Untergang geweihte Existenz und läßt schließlich das Bild zugunsten des wahren Selbst des Betreffenden fallen, des göttlichen Überselbst. Dann vertreibt er aus seinem Geist jeden Gedanken an die unvollkommene egoistische Verfassung der anderen Person und läßt an seine Stelle die Bejahung ihres wahren spirituellen Selbstseins treten.

Wenn also der Adept seinen Dienst an einem anderen, der, von seiner Weisheit angezogen, Rat, oder von seiner Gottesnähe angezogen, Inspiration sucht, damit beginnt, daß er die Fehler im Charakter des Betreffenden feststellt, dann beschließt er ihn damit, daß er sie ignoriert. Er stellt sich dann den Sucher vor, wie er voll heiterer Ruhe im Licht steht, frei vom Ich und seinen Begierden, stark und weise und rein, weil in der Wahrheit lebend. Der Adept verschließt seine Augen vor dem gegenwärtigen Zustand des Suchers, vor all den Anzeichen der Pein und Schwäche und Finsternis, die er zuvor bemerkte, und öffnet sie für den wirklichen, innersten Zustand des Suchers, in dem er ihn mit dem Überselbst vereint sieht. Er hält diesen Gedanken und dieses Bild beharrlich fest, und er hält sie mit der dynamischen Intensität fest, zu der nur er imstande ist. Die Folge dieses inneren Wirkens tritt manchmal sofort im Bewußtsein des Suchers zutage, aber es ist wahrscheinlicher, daß sie einige Zeit braucht, um aus dem unterbewußten Geist aufzutauchen. Selbst wenn es Jahre dauert, bis sie sich zeigt, wird sie dies schließlich ganz gewiß tun.

Wir wissen, daß ein Geist einen anderen durch das Medium von Rede oder Schrift beeinflussen kann; wir wissen auch, daß er einen anderen direkt und ohne jedes Medium durch die stille Kraft der Telepathie beeinflussen kann. Dies ganze Wirken spielt sich auf der Ebene des Denkens und der Emotion ab. Aber der Adept kann nicht nur auf dieser Ebene tätig sein; es ist ihm möglich, auf einer noch tieferen Ebene zu wirken. Er kann in den innersten Kern seines eigenen Wesens eingehen und dort den innersten Kern des Wesens des anderen Menschen berühren. Auf diese Weise spricht Geist zu Geist, aber ohne Worte, ja ohne Gedanken. In seinem innersten Wesen gibt es eine geheimnisvolle Leere, zu der allein der Adept während der Meditation oder Trance Zugang gewinnt. Alle Gedanken ersterben an ihrer Schwelle, wenn er dort eintritt.

Doch wenn er schließlich zum Normalzustand zurückkehrt und die Denktätigkeit wieder einsetzt, dann sind diese ersten Gedankenfolgen mit einer besonderen Macht ausgestattet, durchdrungen voll einer magischen Wirkkraft. Sie ziehen auf telepathischem Wege durch den Raum und hallen im Geiste anderer wider, an die sie womöglich vom Adepten bewußt gerichtet waren. Ihr Einfluß auf gleichgestimmte und empfängliche Personen ist zunächst zu fein und zu tief, um bemerkt zu werden, aber nach und nach gelangen sie an die Oberfläche des Bewußtseins.

Dies ist die wissenschaftliche Tatsache, die hinter dem mittelalterlichen europäischen und heutigen orientalischen Volksglauben an die Wirksamkeit der Segnung und den Wert der Einweihung durch einen Adepten steht. Die wahre Sicht, die der Adept von einem hat, senkt sich in den unterbewußten Geist des Empfänglichen ein wie ein Same und arbeitet sich im Lauf der Zeit wie eine Pflanze durch die Erde des Unbewußten empor, bis sie überirdisch im bewußten Geist zutage tritt. Wenn ihre Wirkungen sich auch viel langsamer zeigen, so sind diese doch viel nachhaltiger, viel dauerhafter als die der üblichen Art, Gedanken mitzuteilen oder Einfluß zu nehmen. Durch solches eigene innere Wachstum beginnt man, die Wahrheit über sein eigenes inneres Wesen und äußeres Leben nach und nach auf die gleiche Art selbst zu erkennen, wie der Adept sie erkennt. Das ist nichts Geringeres als der Übergang vom Standpunkt des Ich zu einem höheren.

Trotz aller übersinnlichen Erkenntnis und persönlichen Vollendung verliert der Weise niemals sein tiefes Gefühl von dem Geheimnis im Herzen des Seins, das Gott ist.


26. DIE WELTIDEE

 

Wie wir es auch nennen, die meisten Menschen haben vage oder stark - das Gefühl, daß es einen Gott geben muß und daß Gott mit der Entstehung des Universums etwas im Sinn gehabt haben muß. Diese Absicht nenne ich die Weltidee, weil Gott für mich der Geist der Welt ist. Das ist eine erregende Vorstellung. Es ist eine uralte Offenbarung, die den ersten Kulturen, den ersten Zivilisationen, die irgendwie von Bedeutung waren, zuteil wurde, wie sie auch allen anderen, die aufgetreten sind, zuteil geworden ist und noch heute der unseren zuteil wird. Wenn der Mensch dieses Wissen tief in sich aufnimmt und rechten Gebrauch davon macht, gelangt er damit in eine harmonische Übereinstimmung mit seinem Ursprung

Die Weltidee gibt allen Dingen, die entstanden sind, geheime, unsichtbare Muster vor. Dies sind nicht unbedingt die Formen, die unsere beschränkten Sinneswahrnehmungen uns darbieten, sondern die Formen, die im Willen Gottes ein für allemal beschlossen sind.

Die Ordnung der menschlichen Lebensumstände, die Werte der menschlichen Gesellschaft und die Wirkweise der menschlichen Fähigkeiten sind elementare Einflüsse, die zwangsläufig die menschlichen Ideen oder Anschauungen vom göttlichen Sein prägen, wiewohl dieses sich auf einer gänzlich anderen und transzendentalen Erfahrungsebene befindet und daher mit diesen Vorstellungen nicht übereinstimmt. Der größte dieser Irrtümer betrifft die Erschaffung der Welt. Ein Bild oder Plan soll im göttlichen Geist entstehen, und dann soll der göttliche Wille auf etwas, genannt Materie (oder, nach einem neueren Wissensstand, genannt Energie), einwirken, um die Welt und ihre Bewohner zu bilden. Kurzum, erst wird der Gedanke und dann stufenweise das Ding hervorgebracht.

Ein Töpfer geht so mit Ton um, aber sein Geist und seine Kraft sind nicht transzendental. Der göttliche Geist ist seine eigene Substanz und seine eigene Energie; seine Gedanken erschaffen diese Dinge. Nicht nur das, sondern die Anzahl möglicher Universen ist unendlich. Nicht nur das, sondern sie sind unendlich verschieden, als ob unendlicher Selbstausdruck angestrebt würde. Dem menschlichen Begriffsvermögen mag es bei dieser Idee schwindeln, aber die Schöpfung hat niemals einen Anfang oder ein Ende gehabt: Sie ist ewig. Sie kann auch (trotz rhythmischer Ruhepausen) niemals zu einem Ende kommen, denn das unendliche Sein kann sich in einer endlichen Anzahl solcher Formen niemals vollständig ausdrücken.

Wenn auch das Universum dem Weltgeist keinen inneren Zweck setzen kann, so doch jeder in ihm befindlichen lebendigen Wesenheit und vor allem jeder ihrer selbst bewußten Wesenheit wie dem Menschen. Kann es auch für den Weltgeist selbst niemals ein Ziel geben, so gibt es doch ein ganz eindeutiges für sein Geschöpf, den Menschen.

 

Wozu, so fragen viele, ist erstens eine Evolution der menschlichen Seele gut, die sie doch bloß an den gleichen Punkt zurückbringt, von dem sie ausging, und zweitens eine Ausbildung der Eigenpersönlichkeit durch die langen Zyklen der Evolution, bloß damit sie am Ende wieder im unpersönlichen Absoluten verschmilzt oder sich auflöst? Ist nicht das ganze Schema aberwitzig und sinnlos? Wenn, so die Antwort, das wirklich der Fall wäre, dann bestünde die erhobene Kritik durchaus zu Recht. Doch es ist nicht der Fall. Die aus dem Überselbst hervorgegangene einzelne Lebensgröße fängt mit dem leisesten Schimmer des Bewußtseins an, indem sie auf unserer Seinsebene als protozoische Zelle erscheint. Sie entwickelt sich schließlich zum vollsten menschlichen Bewußtsein, einschließlich des intellektuellen und spirituellen. Sie endet nicht, wie sie anfing; im Gegenteil, hinter all ihrer Mühe und Plage steht eine großartige Absicht. Es besteht somit eine breite Kluft zwischen ihrem ursprünglichen Zustand und ihrem abschließenden.

Der zweite Punkt ist schwieriger aufzuklären, aber es läßt sich deutlich bejahen, daß die Individualität des Menschen sogar in den göttlichsten Zuständen fortbesteht, die ihm erreichbar sind. Sie wird dort zu etwas qualitativ Gleichem, aber nicht wesenhaft Identischem. Die intimsten geistigen und physischen Erfahrungen menschlicher Liebe werfen zu unserem Verständnis etwas Licht auf dieses Mysterium. Das Mißverständnis, das zu diesen Fragen führt, entsteht hauptsächlich aus der irrtümlichen Meinung, es sei die göttliche Seele, die diese ganze Pilgerfahrt zurücklegt, indem sie sich in einer Reihe von irdischen Formen reinkarniert. Die wahre Lehre über die Reinkarnation besagt nicht, daß die göttliche Seele ein ums andere Mal in die Gefangenschaft und Unwissenheit des Fleisches gerät, sondern daß etwas aus der Seele Emaniertes dies tut, eine einzelne Lebensgröße, die sich schließlich zum persönlichen Ich entwickelt.

Das Überselbst birgt dieses sich reinkarnierende Ich in sich, aber reinkarniert sich nicht selbst. Es ist der Erzeuger; das Ich ist nur sein Abkömmling. Die lange und gewaltige Evolution, durch die die einzelne Lebensgröße von ihrem primitiven zellularen zu ihrem ausgereiften menschlichen Dasein übergeht, ist eine echte Evolution ihres Bewußtseins. Wer da glaubt, daß der Prozeß eine Seele zuerst von der Höhe in einen Körper hinabstürze oder den Geist zwinge, sich in der Materie zu verlieren, und ihr dann keine andere Wahl lasse, als den verlorenen Gipfel noch einmal ganz von unten zu ersteigen, der glaubt falsch.

Das Überselbst steigt niemals ab oder auf, verliert niemals sein erhabenes Bewußtsein. In Wirklichkeit widerfährt dies einem Etwas, das aus ihm hervorgeht und das demzufolge seine Fähigkeit und Kraft in der Latenz hält, einem Etwas, das aus der Unbegrenztheit des Überselbst ausgegrenzt ist und zunächst die einfache einzelne Lebensgröße und später das komplexe menschliche Ich wird. Es ist nicht das Überselbst, das während dieser langen Entfaltungszeit leidet und ringt, sondern sein Kind, das Ich. Es ist nicht das Überselbst, das langsam seine Intelligenz und sein Bewußtsein erweitert, sondern das Ich. Es ist nicht das Überselbst, das durch Unwissenheit und Leidenschaft, durch Selbstsucht und Extraversion getäuscht wird, sondern das Ich.

Der Glaube mancher Hindusekten an die Einschmelzung des Ich oder mancher buddhistischer Sekten an seine Auslöschung ist unphilosophisch. Das Ich hat sich nach einer langen Entwicklung durch die verschiedenen Naturreiche dem unendlichen Ozean des Geistes ausgesondert und ist eine eigenständige Individualität geworden. Nachdem es so zum Bewußtsein dessen gelangt ist, was es ist, und die Wachstumsspirale vom Keim zum Menschen durchlaufen hat, ist das Ergebnis dieser ganzen Mühe sicherlich nicht nur dazu da, weggeworfen zu werden.

Wenn dies geschähe, wäre die ganze Geschichte der Menschheit sinnlos, ihre ganze Mühe und Plage fruchtlos, ihr ganzes Streben wertlos. Wenn die Evolution lediglich die komplementäre Umkehrung eines Involutionsprozesses wäre, wenn die sich entwickelnde Monade für all ihren Kummer nur wieder am Ausgangspunkt ankäme, dann wäre der ganze Plan unsinnig. Wenn die Reise des Menschen aus nichts anderem bestünde, als vom Zeitpunkt seines Hervorgehens aus dem göttlichen Wesen bis zum Zeitpunkt seiner Wiedereinschmelzung in dieses im Kreis zu marschieren, wäre sie ein müßiges und nutzloses Treiben. Es wäre ein gewaltiges Abenteuer, aber auch ein gewaltig stumpfsinniges. Es hat mit seiner Bewegung ein wenig mehr auf sich. Außer in den Spekulationen gewisser Theoretiker findet es gar nicht statt.

Das so entwickelte Selbstbewußtsein wird nicht wieder im Ganzen aufgelöst, ausgelöscht oder verschlungen werden, ohne eine Spur zurückzulassen. Es wird vielmehr mit einer neuen Spirale der Evolution zu höheren Gipfeln des Bewußtseins und göttlicheren Ebenen des Seins anfangen, auf denen es so harmonisch mit dem universellen Sein zusammenwirken wird, wie es ihm zuvor entgegenwirkte. Es wird sein eigenes Wohl nicht vom allgemeinen Wohl trennen. Hier ist eine teilweise Antwort auf die Frage: Was sind letztlich die Gründe für das Umherirren des Menschen durch den Weltlauf? Daß das Leben zählt, daß das Universum einen Sinn hat und daß die Evolution letzten Endes ihre Qualen wert ist - dies sind Anschauungen, die wir zu Recht hegen dürfen. Wenn der Kosmos ein Rad ist, das sich immerzu ohne Unterlaß dreht, so dreht es sich doch nicht ziellos. Die Evolution kehrt nicht zu dem Ausgangszustand zurück, in dem wir einmal waren. Der Aufstieg ist kein Kreis, sondern eine Spirale.

Evolution setzt voraus, daß ihre Möglichkeit in den sich entwickelnden Monaden immer schon latent bestand. Folglich ist die höchste Form in der niedrigsten versteckt. Es findet eine Entwicklung vom blind instinktiven Leben der Tiere zum bewußt denkenden Leben des Menschen statt. Das blinde, instinktive Ringen der Pflanze um ihre Selbsterhaltung wird im Evolutionsprozeß durch das intelligente, selbstbewußte Streben des Menschen ersetzt. Dieser Aufstieg endet auch nicht in der vedantischen Einschmelzung oder der buddhistischen Auslöschung. Er könnte es gar nicht, denn er ist eine Entwicklung der Individualität. Überall stellen wir fest, daß Evolution Vielfalt erzeugt. Es gibt Myriaden von individuellen Monaden, aber jede besitzt etwas Einzigartiges, das sie von allen anderen unterscheidet. Das Leben mag eins sein, aber seine mannigfachen Ausdrucksformen unterscheiden sich, als ob der Unterschied allem derartigen Ausdruck inbegriffen wäre.

Die von der Philosophie mentalistisch definierte Evolution ist nicht ganz dasselbe wie die von Darwin materialistisch definierte. Bei uns bezeichnet sie ganz einfach die Seinsweise, durch rhythmischen Aufstieg und Niedergang nach einer immer vollständigeren Ausweitung des Bewußtseins der individuellen Größe zu streben. Jedoch das Ich besitzt bereits latent alle derartigen Möglichkeiten. Folglich ist der ganze Prozeß, obgleich scheinbar ein aufsteigender, in Wirklichkeit ein sich entfaltender.

Da ist nicht eine einzige Zelle im gesamten Organismus des Menschen, die nicht im Kleinen die Struktur, die Proportionen und die Funktionen des riesigen Kosmos selbst widerspiegelt.

 

Letztlich gibt es in dieser Angelegenheit keine Wahl, wenn es auch kurzfristig so aussehen mag: Die gesamte menschliche Rasse muß dem Weg folgen, der ihr vorgezeichnet ist. Sie wird die subtileren Empfindungen, den konkreten Intellekt, den abstrakten Intellekt sowie die Ausgewogenheit zwischen diesen verschiedenen Aspekten entwickeln müssen. Wenn die Menschen sich nicht bemühen, das jetzt zu tun, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie eines Tages gezwungen sein werden, es zu tun.


  Oben zeilen.gif (1054 bytes)


b.gif" ALT="Oben" width="40" height="40"> zeilen.gif (1054 bytes)