Augenblicke der Wahrheit

23. HÖHERE STUFEN DER KONTEMPLATION

 

Man sollte bedenken, daß es bei der Suche zwei Vorgehensweisen gibt und daß man von beiden Gebrauch machen sollte. Es gibt den Langen Pfad der eigenen Besserung, Läuterung und Anstrengung, und es gibt den Kurzen Pfad, auf dem man sich selbst vollkommen vergißt und seinen Geist auf das Ziel, das eine wirkliche Leben richtet, indem man ständig seiner gedenkt und sich mit ihm identifiziert. Mit der ersten Vorgehensweise kann man bis zu einem gewissen Punkt fortschreiten. Aber durch die Einbeziehung der zweiten Vorgehensweise wird auch die höhere Kraft einbezogen und kommt einem mit Gnade zu Hilfe.

Wer sich ausschließlich auf den Kurzen Pfad verläßt, ohne gänzlich dafür bereit zu sein, hält zu viel für selbstverständlich und stellt zu hohe Forderungen. Das ist Überheblichkeit. Anstatt die Tür zu öffnen, kann eine solche Haltung sie nur noch fester verschließen. Wer sich ausschließlich auf den Langen Pfad verläßt, bürdet sich zu viel auf und belastet sich mit einer Läuterungsarbeit, die er in seinem ganzen Leben nicht zu Ende bringen kann. Das ist vergebliche Liebesmüh. Er entwickelt sich dadurch langsamer. Das klügere philosophische Verfahren besteht darin, die Arbeit auf beiden Pfaden in einem regelmäßigen Wechselrhythmus zu koppeln, so daß im Laufe eines Jahres im Charakter und im Verhalten, im Bewußtsein und im Verständnis zwei Ergebnisse vollkommen unterschiedlicher Art sich zu zeigen beginnen. Schließlich erblicken wir ja diesen Zyklus überall in der Natur, und in jeder anderen Tätigkeit zwingt sie uns, uns danach zu richten Wir sehen den Wechsel von Schlafen und Wachen, Arbeit und Ruhe, Tag und Nacht.

Es stimmt durchaus, was die extremen Verfechter des Kurzen Pfades, etwa des Zen, sagen, daß man nämlich im Grunde nicht mehr braucht, um Erleuchtung zu erlangen, daß dazu keine Meditation (im gewöhnlichen Sinne), kein Exerzitium, kein sittliches Streben und kein Studium erforderlich sind. Wir sind jetzt genauso göttlich, wie wir es immer sein werden. Es gibt nichts, was uns hinzugegeben werden müßte; eine Entwicklung unseres wirklichen Selbst ist nicht möglich. Diese Verfechter übersehen jedoch, daß der Kurze Pfad, der die zuvor genannten Mühen nicht kennt, nur dann zum Erfolg führen kann, wenn gewisse wesentliche Bedingungen gegeben sind.

Erstens einmal muß man einen Lehrmeister finden. Es reicht nicht aus, einen Erleuchteten zu finden. Zwar empfinden wir in seiner Gegenwart Frieden und Erhebung, aber sie werden vergehen, nachdem wir seine Gegenwart verlassen haben. Solch ein Mensch ist eine bewundernswerte Erscheinung und eine denkwürdige Inspiration, kein Führer, der einen unterweist, warnt und Schritt für Schritt anleitet. Zweitens müssen wir in der Lage sein, fortwährend mit dem Lehrmeister zu leben, bis wir die Lehrzeit beendet und das Ziel erreicht haben. Wenige Suchende besitzen die Freiheit, diese zweite Bedingung zu erfüllen, denn über seine Verhältnisse kann man nur schwer gebieten. Und noch weniger haben das Glück, die erste zu erfüllen, denn ein fähiger, geneigter und in geeigneten Umständen lebender Lehrmeister ist eine Seltenheit.

Dies sind zwei der Gründe, weshalb die Philosophie die Ansicht vertritt, daß eine Verbindung von Langem und Kurzem Pfad für einen modernen westlichen Suchenden die einzige praktische Lösung ist. Wenn er, von der Verheißung sofortigen Erfolgs oder leichten Vorwärtskommens verlockt, den Langen Pfad ausläßt, wird ihm das im Lauf der Zeit Selbstbetrug oder Mißerfolg, Enttäuschung oder sittlichen Verfall bescheren. Denn seine negativen Charaktereigenschaften werden erstarken und ihn überwältigen, der Mangel an Vorbereitung und Entwicklung wird ihn daran hindern, die hochfliegenden Lehren, die er sich zu eigen machen will, in der Erfahrung einzuholen, während die Unmöglichkeit, unter solchen Umständen zu Ausgeglichenheit zu gelangen, ihm alle Erfolge, die er noch für sich verbuchen mag, vereiteln oder wegnehmen wird.

Es wird der Einwand erhoben, warum denn überhaupt suchen, wenn man in Wirklichkeit das Überselbst ist? Ja, es kommt eine Zeit, in der die vorsätzliche, zielgerichtete Suche nach dem Überselbst aus diesem Grund aufgegeben werden muß. Paradoxerweise wird sie oftmals aufgegeben: jedesmal, wenn man ein Aufleuchten hat, denn in solchen Augenblicken weiß man, daß man immer das Wirkliche war, ist und sein wird, daß es nichts Neues zu erwerben oder zu suchen gibt. Wer sollte was suchen?

Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß die alten Denkgewohnheiten sich nach jedem Aufleuchten wieder einstellen und den Geist überwältigen, indem sie ihn diese Einsicht verlieren lassen und ihn erneut auf die Suche schicken. Solange dies geschieht, muß man die Suche fortsetzen, nur mit dem Unterschied, daß man nicht mehr blind sucht wie in früheren Tagen und meint, man sei ein Ich, das sich zum Überselbst zu wandeln und in zeitlichen Entwicklungsschritten auf einen neuen Stand zu gelangen suche. Nein! Durch das Verständnis des Kurzen Pfades weiß man, was man sucht, und wünscht sich keine andere Erfahrung, weil Wünschen und Erfahren einen beide aus dem wesenhaften Selbst hinausversetzen. Man denkt und handelt, als sei man dieses Selbst, und wird dadurch wieder in dieses hineinversetzt. Es ist eine Befreiung vom zeitgebundenen Denken, ein Erkennen zeitloser Gegebenheit.

Man tut so, als wäre man, was man zu werden trachtet: denkt, spricht, handelt, verhält sich als Herr von Emotion, Verlangen, Ich, weil man nämlich ein solcher werden will. Aber man sollte dieses Stück nur mit und vor sich selbst aufführen, um sich nicht in den Augen anderer größer zu machen, denn andernfalls würde man die Saat einer großen Eitelkeit säen.

Obwohl der Verfasser es weder für notwendig noch für ratsam erachtet, in einem Werk allgemeiner Unterweisung jene weitergehenden Geheimnisse einer fortgeschrittenen Praxis zu enthüllen, die denjenigen, welche zu ihrem Empfang bereit sind, als Abkürzung zum Ziel dienen, soll doch so viel gesagt sein: Jeder, der diesen Pfad betritt und sich den hier gegebenen Übungen zur Selbstzucht getreulich und bereitwillig unterzieht, bis er weit genug fortgeschritten ist, um aus der zusätzlichen Einweihung in diese Geheimnisse Nutzen ziehen zu können, darf sicher sein, daß zur rechten Zeit entweder er jemandem zugeführt oder jemand ihm zugeführt wird und er dann die erforderliche Einweihung erhält. So will es das wunderbare Wirken der Weltseele, die über unserer Erde und über der ganzen Menschheit schwebt. Niemand ist zu unbedeutend, um ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen, wie auch niemandem die ihm zustehende Erleuchtung vorenthalten wird; aber alles in der Natur geht in Etappen, und daher müssen sich die Zeiger der Planetenuhr drehen und muß die rechte Stunde schlagen, bevor der Suchende den persönlichen Kontakt herstellt, der in neun von zehn Fällen die Vorbereitung zum Eintritt in eine höhere Erkenntnis dieser spirituellen Wahrheiten ist.

Es gibt ein einziges Grundprinzip, das sich wie ein roter Faden durch alle diese höheren Kontemplationsübungen zieht, nämlich: Wenn wir von den Gedanken an bestimmte Dinge, von den durch die Sinne ins Bewußtseinsfeld gerückten Bildern bestimmter Gegenstände ablassen können und wenn wir dies mit vollkommen wacher Klarheit darüber tun können, was wir da tun und warum, dann wird als Folge eines solchen Ablassens das Element des reinen, undifferenzierten Denkens selbst von sich aus zum Vorschein kommen und wir werden es als unser innerstes Selbst begreifen.

Diese Übungen, die auf den mentalistischen Prinzipien der verborgenen Lehre beruhen, wurden traditionell als über dem Yoga stehend betrachtet. Deshalb wurden sie jahrtausendelang nur mündlich überliefert und sind, soweit unser Wissen reicht, in ihrer Gesamtheit noch nie zuvor öffentlich gemacht worden, weder in einer alten orientalischen Sprache wie dem Sanskrit noch in einer modernen Sprache wie dem Englischen. Sie sind keine Yoga-Übungen im eigentlichen Sinne und können nicht von jemandem praktiziert werden, der nie zuvor Yoga praktiziert hat.

Der Schüler muß sich für einige Minuten bewußt von der äußeren Vielfalt der Dinge abkehren und sich auf ihren einzigen geistigen Grund in sich selbst besinnen. Er muß sich daran erinnern, daß er zwar alles als ein objektives Bild sieht, dieses Bild aber von seinem eigenen Geist nicht zu trennen ist. Er muß die Weltidee in sich transzendieren - nicht durch den Versuch, sie auszulöschen, sondern indem er ihren mentalistischen Charakter von Grund auf begreift. Er muß zeitweise zu einem Betrachter werden, geistig abgelöst, aber nicht minder handlungsfähig.

Obwohl der Suchende jetzt zu seinem Zeugenselbst erwacht ist, seine «Seele» gefunden und sich damit weit über die Masse der Menschen erhoben hat, hat er noch nicht die ganze ihm vom Leben gesetzte Aufgabe vollbracht. Eine weitere Anstrengung steht ihm noch bevor. Er muß noch erkennen, daß das Zeugenselbst nur ein Teil des Allselbst ist. Seine nächste Aufgabe besteht also darin, zu entdecken, daß er nicht nur der Zeuge alles übrigen Seienden ist, sondern wesentlich aus demselben Stoff gemacht. Kurz, er muß durch weitere Meditationen seine Einheit mit dem gesamten Universum, wie es wirklich ist, erkennen. Er muß darüber meditieren, daß sein Zeugenselbst in seinem Wesen das unendliche All ist. Somit sind die ultramystischen Übungen in zwei Stufen unterteilt, deren zweite höher ist als die erste. Die Vertreibung der Gedanken enthüllt das innere Selbst, während die Wiedereinsetzung der Gedanken ohne Verlust des neu erworbenen Bewußtseins das allumfassende universelle Selbst enthüllt. Die zweite Tat ist schwerer.

 

Wir meditieren über etwas, was nicht wie Ideen und materielle Formen kommt und geht, über etwas, was nicht vergänglich ist. Weil das, was vergeht, seinem eigenen Entstehen widerspricht, suchen wir nach dem, was sich selbst nicht widerspricht. Daher ist diese Art von Meditation, die Kontemplation ins Handeln, Schlaf ins Wachen einführt, von den Alten «Der Yoga des Widerspruchsfreien» genannt worden.

Die im Ich vorhandene Gegenkraft wird ständig versuchen, einen von der positiven Konzentration auf das reine Sein abzuziehen, hin zur negativen Beschäftigung mit niedrigeren Themen. Jedesmal muß man sich über das, was da vor sich geht, klar werden, über den Richtungswechsel, und muß sich ihm sogleich widersetzen. Aus diesem quälenden Konflikt wird zuletzt frische innere Stärke geboren werden, wenn man Erfolg hat, aber nur weitere geistige Schwäche, wenn man versagt. Denn die Meditation ist hochgradig schöpferisch.

Es gibt in diesem dritten Stadium einen Zustand, der stets die größte Verwunderung erweckt, wenn die Einweihung in ihn beginnt. In gewisser Weise entspricht er dem Zustand des Embryos im Mutterleib und ist dessen geistige Parallele. Daher wird er von Mystikern, die ihn erfahren haben, «die zweite Geburt» genannt. Der Geist ist so tief in sich zusammengezogen und so in sich versunken, daß die Außenwelt völlig verschwindet. Die Empfindung, ringsum von einem zugleich schützenden und gütigen Größeren umschlossen zu sein, ist stark. Man hat das Gefühl, in dieser besänftigenden Gegenwart vollkommen zur Ruhe zu kommen. Die Atmung wird sehr ruhig und kaum wahrnehmbar. Auch ist man sich bewußt, daß man auf geheimnisvolle Art rhythmisch Nahrung von der universellen Lebenskraft bezieht. Selbstverständlich gibt es keine Verstandestätigkeit, kein Denken und auch keinen Bedarf daran. Statt dessen gibt es Gewahrsein. Es gibt keine Begierden, keine Wünsche, keine Sehnsüchte. Eine frohe Friedensstimmung, die geradezu an Glückseligkeit grenzt, so wie menschliche Liebe ohne ihre Leidenschaften und Kleinlichkeiten sein könnte, hält einen in magischem Bann. In seiner Freiheit von geistiger Tätigkeit und Unruhe, von leidenschaftlicher Erregung und emotionalem Aufruhr hat der Zustand etwas von kindlicher Unschuld. Daher das Wort Jesu: «Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.» Im wesentlichen aber ist es eine Rückkehr in einen geistigen Mutterschoß, zur Wiedergeburt in eine neue Seinswelt, in der man eingangs persönlich so hilflos, so schwach und so abhängig ist wie der physische Embryo auch.

Trage nicht deine eigenen Schwierigkeiten oder deine Versuchungen oder die Schwierigkeiten und Lebensprobleme anderer Menschen direkt in deine Meditation hinein. Es gibt Zeit und Ort, wo ihre Betrachtung in einem mystischen Licht oder ihr Vorbringen gegenüber einer mystischen Macht am Platz ist. Aber die Zeit und der Ort dafür sind nicht am Anfang der Meditationsperiode, sondern vielmehr an ihrem Ende. Alle nach dem philosophischen Ideal durchgeführten Meditationen sollten mit Gedanken an andere enden, mit dem Gedenken ihrer spirituellen Not und mit einer Aussendung des Lichts und der Gnade, die man empfangen hat, um Menschen zu segnen, die solcher Hilfe bedürfen. Am Anfang sollte es dein Bestreben sein, dein niederes Selbst zu vergessen, dich darüber zu erheben. Erst nachdem du die göttliche Heimsuchung empfunden hast, erst gegen Ende deiner Übungsperiode, sollte es dein Bestreben sein, dein höheres Selbst dem niederen zu Hilfe kommen zu lassen oder anderen verkörperten Seelen deine Hilfe und deinen Segen zu bringen. Wenn du dies jedoch vor der Zeit versuchst, wenn du nicht bereit bist, das persönliche Leben auch nur für ein paar Minuten fahren zulassen, dann werden dir deine Mühen nichts anderes einbringen als deinen eigenen Gedanken.

Die sich zuletzt ergebende Verfassung ist kein negativer Zustand. Wer sich einbildet, die scheinbare Leere, die nun folgt, sei ähnlich der Leere des spiritistischen Mediums, versteht den Vorgang nicht. Der wahre Mystiker und das unselige Medium sind weit auseinander liegende Pole. Der erste ist hochgradig positiv; das zweite ist teilnahmslos negativ. In das zur Ruhe gebrachte Bewußtsein des ersten tritt zuletzt die herrliche Gottheit, die unser wahres Selbst ist, das weltumspannende leuchtende Eine; in das ausgelöschte Bewußtsein des zweiten tritt irgendeine unbedeutende Person, genauso dumm oder so schlau, wie sie auf Erden war, aber schwerlich mehr; oder schlimmer noch, es erscheint eines jener von menschlichen Seelen zehrenden finsteren und bösartigen Wesen, die das unglückliche Medium in Abgründe der Falschheit und des Lasters zerren oder von ihm so weitgehend Besitz ergreifen, daß es zum Selbstmord getrieben wird. Schüler weichen erschreckt vor der Vorstellung einer großen Leere zurück, die ihnen nichts läßt, sei es menschlich oder göttlich, woran sie sich halten könnten. Wieviel mehr werden sie erst zurückweichen, wenn es nicht mehr um eine bloße Vorstellung geht, sondern um eine tatsächliche Erfahrung, die sie persönlich zu durchlaufen haben! Und doch ist das ein Ereignis - wenn auch nicht das letzte auf dem höchsten ultramystischen Pfad -, das sie weder vermeiden noch umgehen können. Es ist eine Prüfung, der sie standhalten müssen, wenngleich diese Erfahrung für einen Schüler, der sich in die Hinnahme der Wahrheit ergeben hat, welches Antlitz sie auch immer tragen mag, und der demzufolge bereits die intellektuelle Leerheit von Materie und Persönlichkeit begriffen hat, nicht die Form einer Prüfung, sondern vielmehr die eines Abenteuers annehmen wird. Aus einer solchen seltenen Erkenntnis wird er als ein anderer Mensch hervorgehen. Fortan wird er wissen, daß nichts, was eine Form hat, niemand, der eine Gestalt besitzt, keine Stimme außer der, die lautlos ist, ihm je wieder helfen kann. Er wird wissen, daß er sein ganzes Vertrauen, seine ganze Hoffnung und sein ganzes Herz jetzt und immerdar bedingungslos dieser Leere hingeben muß, die ihm geheimnisvollerweise keine Leere mehr sein wird. Denn sie ist Gott.

Alles, was sich der geistigen Stille in diesem überaus kritischen Stadium aufdrängt, muß zurückgewiesen werden, einerlei, was für ein tugendhaftes oder «spirituelles» Aussehen es sich gibt. Nur durch das Vergehen allen Denkens, durch den Verlust jeglichen Denkvermögens kann man diese strenge Stille wahren, wie sie gewahrt werden sollte. Hier allein wird der letzte große Kampf ausgefochten und die erste große Erfüllung erlangt. Dies wird der Kampf sein, in dem das Ich den letzten Todesstoß versetzt bekommt; diese Erfüllung wird die Vereinigung mit dem Überselbst nach dem Tode des Ich sein. Kampf und Erfüllung müssen beide in dieser Stille stattfinden; sie dürfen keine rein intellektuelle Sache des Denkens allein und keine rein emotionale Sache des Fühlens allein sein. Hier in der Stille müssen Denken und Emotion ersterben, woraufhin dann das Ich ihre machtvolle Unterstützung verliert. Deshalb ist es hier allein möglich, das Ich überhaupt mit einer Aussicht auf Sieg anzugreifen.


24. DER INNERE FRIEDE

 

Um Brahman zu erkennen, muß der Geist in dem erforderlichen Zustand der Ruhe, Gelassenheit und Ausgeglichenheit gehalten werden und darf sich von keinem Verhaftetsein abbringen lassen. Nachdem dies geleistet wurde, und erst dann, kann man das Forschen überhaupt mit einer gewissen Hoffnung auf Erfolg beginnen. Solange der Geist nicht ausgeglichen ist, kann man Brahman nicht zu fassen bekommen.

Ein sorgenvolles und ängstliches Festhalten an der Zukunft muß aufgegeben werden. Sie muß der höheren Kraft vollständig und aufrichtig überantwortet werden. Ruhe kehrt leicht bei dem Menschen ein, der der höheren Macht wirklich vertraut. Das ist unbestreitbar.

Man hat durchaus noch seine Zu- und Abneigungen - man ist dafür durchaus noch Mensch genug -, aber man weiß, daß sie für eine wahre und sachliche Anschauung zweitrangig sind und daß man sich seine innere Ruhe nicht von ihnen stören lassen darf.

Indem man seinen Geist augenblicklich der Gottheit im Innern zuwendet, wenn man sich unter hadernden Menschen befindet, bringt man grobe Gedanken zum Schweigen und vertreibt ungute Gefühle. Diese häufige Wende nach innen ist nicht nur zum spirituellen Wachstum notwendig, sondern auch zum Selbstschutz. Alles und alle rings um uns üben einen mächtigen Einfluß auf unseren Geist aus, und dies ist das beste Mittel, um uns gegen diesen unaufhörlichen Strom der Einflüsterungen unempfindlich zu machen.

Das vollkommene Glück, auf das die Menschen als Ziel ihres Lebens auf Erden aus sind, kann niemals erworben werden. Denn es gründet sich vor allem auf Dinge und Personen, auf solches, was außerhalb des Suchers liegt, und auf Vergängliches. Das Glück, das sie sich wirklich erwerben können, ist nicht von dieser Art, obwohl es das dieser Art einschließen kann und jedenfalls nicht ausschließt. Es ist vor allem auf Gedanken und Gefühle gegründet, auf solches, was innerhalb des Suchers ist, und auf Bleibendes.

Die heitere Gelassenheit des Schülers muß ungebrochen bleiben, ob er nun mit etwas Erfolg hat oder nicht und ob er dazu bald schon oder erst spät imstande ist. Denn sie darf nicht von diesen Äußerlichkeiten abhängen; sie muß von der inneren Einlösung der Wahrheit abhängen. Er sollte alles menschenmögliche für seinen Erfolg tun. Aber danach sollte er sich nach dem Ratschlag der Gita richten und die Ergebnisse in den Händen Gottes oder des Schicksals belassen. Wie also die Ergebnisse auch ausfallen mögen, ob günstig oder nicht, er kann sie nunmehr hinnehmen und seinen geistigen Frieden behalten.

Selbst wenn er an einem günstigen Ausgang zweifelt, muß er sich der Situation fügen und sie als wahrhaft vom Überselbst gerade jetzt für ihn gewollt betrachten. Durch diese Hinnahme wird der Stachel entfernt und geduldige Ergebenheit in den göttlichen Willen geübt. Er wird dann keine Enttäuschung verspüren, sondern wird sich seinen inneren Frieden unzerrüttet bewahren. Er sollte auch daran denken, daß er nicht allein ist. Er steht unter göttlichem Schutz, denn wenn er ein wahrer Schüler ist, hat er sich seinem höheren Selbst hingegeben. Er verscheuche daher alle Sorgen im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit, lege sie in höhere Hände und überlasse diesen die Probleme. Er weigere sich, die Niedergeschlagenheit und Angst hinzunehmen. Sie gehören zum Ich, das er aufgegeben hat. In dem Leben des Glaubens, Vertrauens und Gehorsams, das die Suche verlangt, haben sie nichts zu suchen. Er wende sich dem Gebet zu, um seine demütige Ergebung in die höhere Führung und sein Vertrauen darauf auszudrücken, den Glauben daran, daß das Überselbst mit den Ergebnissen dieser Angelegenheit so verfahren wird, wie es letztlich für ihn am besten ist.

Das Schicksal beschert ihm Schwierigkeiten, vor denen er oft nicht ausreißen kann. Doch was getragen werden muß, kann auf zweierlei Weise getragen werden. Er kann sein Denken berichtigen, so daß er die Lehren der Erfahrung auch richtig erfaßt. Oder er kann, da er die Bürde der Sorge nicht zu tragen braucht, es fahren lassen und sich an die Geschichte von dem Mann im Eisenbahnwaggon erinnern, der sein Gepäck auf den Schultern behielt, anstatt es abzusetzen und vom Zug tragen zu lassen. Er stelle also sein sorgenschweres «Gepäck» ab und lasse es vom Überselbst tragen.

Kein anderer Mensch kann uns Glück schenken, wenn er es nicht selbst in sich trägt. Der romantische Trieb, in einem zweiten Menschen das zu suchen, was keiner von beiden besitzt, kann niemals Erfüllung finden.

Welcher Art die Not auch sein mag, die einen Menschen quält - sei sie leiblich oder geistig, weltlich oder spirituell -, es gibt eine sichere Zuflucht, an die er sich immer wenden und zu der er immer zurückkehren kann. Wenn er die Kunst, still zu sein, gelernt hat, kann er seine Not an die äußere Schwelle des Geistes tragen und sie dort zurücklassen, während er selbst in die innerste Tiefe völliger Gelöstheit und sorgloser Ruhe eingeht. Dies ist keine feige Weltflucht und kein törichter Selbstbetrug, obwohl dies beim unphilosophischen Mystiker durchaus der Fall sein kann und auch oft ist. Denn wenn er aus der inneren Stille auftaucht und seine Not wieder aufnimmt, wird er damit auch die Stärke aufnehmen, sie tapfer auszuhalten, und die Klugheit, richtig mit ihr umzugehen. Dies wird immer der Fall sein, wenn er die Sache mit philosophischer Mystik angeht, die sich inspiriertes Handeln und nicht inspiriertes Träumen zum Ziel setzt. Überdies wird seine Fühlung mit dem inneren Geist dafür sorgen, daß geheimnisvolle Kräfte zu seinen Gunsten arbeiten, um das Problem ganz unabhängig von seinem bewußten Streben und Wissen zu lösen.

Die Wahrheit mag ausgesprochen oder geschrieben, gepredigt oder gedruckt werden, jedoch in ihrer dauerhaftesten Ausdrucks- und Mitteilungsform wird sie durch das tiefste Schweigen an die tiefste Natur im Menschen übertragen.

Der Grund, weshalb diese schweigende, innerliche und bildlose Einweihung in die Stille letztlich so viel mächtiger ist, liegt darin, daß sie den Menschen selbst erreicht, während alle anderen Formen nur seine Instrumente oder Träger oder Körper erreichen.

Wenn du dich darüber beklagst, daß du keine Antwort erhältst, daß das Eingehen in die Stille ergebnislos bleibt, dann weist das auf zweierlei hin: erstens, daß du nicht weit genug hineingehst, um die intuitive Ebene zu erreichen; zweitens, daß du nicht lange genug darauf wartest, daß sie sich auf dich auswirkt.

Die Aufmerksamkeit muß auf dieser Stufe ausschließlich auf die verborgene Seele gerichtet sein. Man darf jetzt kein anderes Ziel, nicht einmal ein Symbol von ihr ins Auge fassen. Wenn einer so tief in diese Kontemplation versunken ist, daß sein ganzes Wesen, seine Denk-, Gefühs-, Willens- und Intuitionspsyche samt und sonders darin vermischt und verschmolzen sind, kann plötzlich und unerwartet eine Bewußtseinsverlagerung erfolgen. Man geht tatsächlich hinaus aus dem, was einem bisher als das eigene Selbst galt, hinein in eine neue Dimension, und wird ein anderes Wesen. Wenn einem diese noch unbekannte Erfahrung zum erstenmal widerfährt, fürchtet man, dies sei der Tod selbst. In der Tat wird sie in mystischen Traditionen des Westens als «Ersterben zu sich selbst» und des Ostens als «Verscheiden von sich selbst» bezeichnet. Aber wenn man diese Erfahrung periodisch wiederholt hat und damit vertraut geworden ist, dann entsteht nicht nur keine Furcht, sondern die Erfahrung wird inständig ersehnt und begrüßt. Dort löste ich mich in dem See auf, der das Wasser des Lebens birgt. In der tiefen Stille, in der sich jede Spur eines persönlichen Selbst auflöst, geschieht die wahre Kreuzigung des Ich. Dies ist die wahre Bedeutung der Kreuzigung, wie sie in den Initiationen der alten Mysterientempel vollzogen wurde und wie sie Jesus widerfuhr. Der Tod, um den es hier geht, ist ein geistiger, nicht ein physischer.

Seelenfrieden ist nicht genug. Man muß das Wirkliche noch mehr durchdringen - bis zur Herzensfreude.

Erreicht der Geist einen Zustand, in dem er frei ist von seinen eigenen Ideen, Projektionen und Wünschen, dann kann er wahre Seligkeit verwirklichen.

Jener glückselige Zustand, in dem der Geist sich selbst als das erkennt, was er ist, in dem alle Aktivität außer der des Gewahrseins allein zur Ruhe gekommen ist (und auch dann ist es ein Gewahrsein ohne ein Objekt) - das ist das Herz der Erfahrung.

Dies ist die letzte Einsamkeit, die die Bestimmung aller Menschen ist.


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