Augenblicke der Wahrheit

6. EMOTIONEN UND ETHIK

 

Das Trachten nach moralischer Vortrefflichkeit ist unvergleichlich viel besser als das Trachten nach mystischen Erlebnissen. Seine Gewinne sind dauerhafter, unentbehrlicher und wertvoller.

Die philosophische Disziplin sucht einen Charakter zu bilden, den keine Schwäche untergraben kann und aus dem alle negativen Züge verbannt wurden.

Die Moralvorschriften, die sie zur Anwendung im Leben und zur Leitung im klugen Handeln anbietet, werden nicht allen gleichermaßen angeboten, sondern nur denen, die auf der Suche sind. Sie werden kaum jemanden ansprechen, der nur deshalb rechtschaffen ist, weil er die Bestrafung der Sünde fürchtet, und nicht, weil er die Rechtschaffenheit selbst liebt. Ebenso wenig werden sie jemanden ansprechen, der nicht weiß, worin sein wahres Selbstinteresse besteht. Es wäre ja gar nichts daran auszusetzen, völlig selbstbezogen zu sein, wenn wir das Selbst, dessen Interessen wir wahren oder fördern wollen, nur gänzlich kennen würden. Denn dann würden wir nicht Vergnügen fälschlich für Glück halten oder Böses mit Gutem verwechseln. Dann würden wir sehen, daß irdische Selbstbezähmung in manchen Beziehungen tatsächlich heilige Selbstbehauptung in anderen ist und daß der verborgene Teil des Selbst der beste Teil ist.

Selbstloses Handeln bedeutet nicht, jede Arbeit von sich zu weisen, die finanziell einträglich ist. Wie könnten wir sonst unseren Lebensunterhalt bestreiten? Es bedeutet nicht asketische Entsagung und mönchische Flucht vor persönlicher Verantwortung. Die philosophische Einstellung ist die, daß ein Mensch seine ganze Pflicht der Welt gegenüber erfüllen soll, dies aber dergestalt erfolgen wird, daß daraus niemandem Schaden erwächst. Wahrheit, Aufrichtigkeit und Ehre werden nicht um des Geldes willen geopfert. Zeit, Energie, Talent und Geld werden klug zum Besten der Menschheit eingesetzt, und vor allen Dingen wird der Philosoph ständig darum beten, daß das Überselbst ihn als ein dem Dienst geweihtes Instrument annehmen möge. Und das wird es gewiß.

Die Menschen fragen: «Was ist Wahrheit?» Aber im Gegenzug befragt die Wahrheit sie: «Wer seid ihr, daß ihr danach fragt? Besitzt ihr den Verstand, die Fähigkeit, den Charakter, das Urteilsvermögen, die Bildung und die Vorbereitung, um die Wahrheit zu erkennen? Wenn nicht, dann macht euch erst einmal auf und erwerbt sie und vergeßt nicht die Hebung des Charakters.»

Buddha ließ sich nicht über tiefere Probleme aus, bevor er sich über praktische Ethik ausgelassen hatte. Er lehrte die Menschen, gut zu sein und Gutes zu tun, bevor er sie lehrte, sich in die morastige Logik des metaphysischen Irrgartens vorzuwagen. Und selbst wenn sie sicher aus einer Zone herausgekommen waren, in der sich so viele ganz und gar verlieren, führte er sie zurück zu ethischen Werten, wenn auch nunmehr von einer viel höheren Art, da gegründet auf völliger Selbstlosigkeit. Denn Liebe muß sich mit Erkenntnis vermählen, das Mitleid muß seine warmen Strahlen auf den kalten Verstand scheinen lassen. Die Erleuchtung anderer muß der Preis sein, den man für seine eigene Erleuchtung zahlt. Diese Dinge werden nicht so ohne weiteres vom Mystiker empfunden, der oft zu sehr in seinen eigenen Ekstasen versunken ist, um die Nöte anderer zu bemerken, oder vom Metaphysiker, der oft von seiner eigenen Begriffsheberei zu sehr an seine harte und strenge Logik gefesselt ist, um zu erkennen, daß Menschheit nicht nur ein abstraktes Nomen ist, sondern aus lebendigen Menschen besteht. Der Philosoph jedoch erkennt in dieser Forderung von Erbarmen und Mitmenschlichkeit einen wesentlichen Bestandteil der Wahrheit. Folglich ist die Erlösung, die er sucht von Unwissenheit und den damit verbundenen Nöten, die ihr auf dem Fuß folgen -, nicht für ihn selbst bestimmt, sondern für die ganze Welt.

Es stimmt, daß das Denken dem Handeln vorausgeht, daß Handlungen Gedanken ausdrücken und daß, wer den Geist beherrscht, das ganze Leben beherrscht. Aber es stimmt auch, daß in den Kämpfen, die der Mensch mit sich selbst führt, eine Stufe auf die andere folgt, daß er leichter den Willen gebraucht, als er das Fühlen ändert. Daher sollte die Erziehung des inneren Denkens dem folgen und nicht vorausgehen. Der Ratschlag. den so viele Mystiker geben, für das Innenleben zu sorgen, woraufhin das Außenleben schon für sich selbst sorgen werde, wirkt einleuchtend, aber zeigt auch einen Mangel an praktischem Verstand. Des Menschen Herz wird keinen Frieden fühlen noch sein Geist Gelassenheit finden, bis er die niederen Instinkte aufgibt und sich seiner überirdischen Berufung weiht. Zuerst muß er sie äußerlich in seinen Taten aufgeben; später muß er es innerlich selbst in seinen Gedanken tun. Dies wird ihn unweigerlich in ein inneres Ringen stürzen, in ein Hin und Her von Siegen und Niederlagen, Hochgefühlen und Verzweiflungen. Der Weg nach oben ist lang, hart, steinig, und man kommt nur langsam voran. Er ist immer eine Bühne für Jammern und Wehklagen, für Kämpfen und Fallen. Nur die Zeit - die größte Macht - kann ihn zum hohen Ende des Weges führen. Erst wenn sich die Lektionen einer Geburt nach der anderen durch furchtbare Wiederholung tief und unverkennbar in sein Bewußtsein einätzen, kann er sie willig und ergeben annehmen und damit den unnötigen Leiden durch Begehren, Leidenschaft und Verhaftung ein Ende setzen.

Wer eifersüchtig ist, zeigt dadurch noch lange nicht, daß er den Menschen liebt, der ihm Anlaß dieser Gefühlsbezeugung ist. Er zeigt nur, daß er sich selbst liebt. Was er empfindet, ist selbstsüchtige Besitzgier. Es ist dasselbe Gefühl, das er für sein Bankkonto an den Tag legt. Das hat mit Liebe nichts zu tun.

Die Aufforderung Jesu, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, kann man so lange unmöglich zur Gänze befolgen, wie man nicht die Höhe erreicht hat, auf der das eigene wahre Selbst weilt. Ihr zu gehorchen hieße, sich mit dem physischen Schmerz und dem emotionalen Leid des Nächsten zu identifizieren, so daß man sie nicht minder heftig empfände als die eigenen. Ließe man sich von allen Arten menschlichen Jammers anrühren, die das Leben überschatten, könnte man das nicht ertragen. Es ließe sich nur ertragen, wenn man dessen Macht, die eigenen Gefühle zu beeinträchtigen und das eigene Gleichgewicht zu stören, zunichte gemacht hätte. Daher würde einem eine solche Liebe unerträgliches Leid bescheren. Indem man sich aktiv mit denen identifiziert, die sich grämen, indem man sein Mitgefühl ihnen gegenüber bis zum Äußersten treibt, wird man durcheinandergebracht und geschwächt. Dies mehrt die eigene Fähigkeit nicht, dem Leidenden zu helfen, sondern mindert sie bloß. Andere zu lieben, ist lobenswert, aber es muß mit Ausgeglichenheit und Vernunft verknüpft sein, oder es wird wirkungslos verpuffen. Durch die Anteilnahme an anderen Dingen oder das Mitgefühl mit anderen Menschen nicht aus dem Gleichgewicht, dem inneren Frieden geworfen zu werden, sondern damit aufzuhören, wenn das eine oder das andere den Geist aufzuwühlen oder die Gefühle zu verwirren droht - das ist Weisheit.

Das Göttliche zu lieben, ist unsere vorrangige Pflicht. Unseren Nächsten zu lieben, ist nur zweitrangig.

Mitleid ist der höchste moralische Wert, das edelste menschliche Gefühl, die reinste Liebe zur Kreatur. Es ist der vollkommene gesellschaftliche Ausdruck der göttlichen Seele des Menschen. Denn er ist nur deshalb imstande, mit einem und für einen anderen Menschen zu fühlen, weil beide in Wirklichkeit durch die Gegenwart dieser Seele in jedem einzelnen verbunden sind.

Es wird keineswegs von einem verlangt, sich über alle Emotionen zu erheben, um die Gelöstheit und Seligkeit eines solchen Lebens zu erlangen; es wird vielmehr von einem verlangt, sich über die niederen Emotionen zu erheben. Denn es ist unerläßlich, die höheren zu pflegen. Ja, gerade im vollständigen Umsturz der Ordnung der Gefühle erweist sich der Übergang vom irdischen zum spirituellen Leben am allermeisten. Ohne ihn, bei einem bloß intellektuellen Umsturz allein, kann man das Überselbst niemals verwirklichen.

Die davon reden, sich von der moralischen Unterdrückung durch die konventionelle Gesellschaft zu befreien, liegen in manchen Fällen richtig, aber in den meisten falsch. Denn sie meinen hauptsächlich, daß sie frei sein wollen, sinnlichen Begierden zu folgen, ohne sich irgendeine Selbstdisziplin aufzuerlegen. Sie sehen nicht, daß wahre Selbstbefreiung darin besteht, diese Begierden zu überwinden.

Dem Menschen ist die Verpflichtung auferlegt, der Forderung des Überselbst nachzukommen und einen Versuch zu machen, sich über die tierische Ebene seines Wesens zu erheben. Und dies kann nicht allein auf der Grundlage bloßer Emotion geschehen. Es verlangt den Gebrauch des höheren Willens. Man muß in der Tat einen heiligen Krieg führen.

In dem Maße, als man sein Ich aus einer Reaktion gegenüber einem Feind heraushält, ist man vor diesem sicher. Man muß dessen Feindschaft nicht nur mit Ruhe und Gleichgültigkeit begegnen, sondern auch mit positiver Vergebung und aktiver Liebe. Sie allein sind einer hohen gegenwärtigen Stufe des Verstehens würdig. Sei gewiß, daß aus einem solchen Verhalten letztlich Gutes entsteht. Selbst wenn dieses Gute nur die Entfaltung einer latenten Kraft zur Bezwingung negativer Emotionen wäre, wie man sie durch ein solches Verhalten unter Beweis stellt, wäre das Lohn genug. Aber es ist mehr.

Widerstand gegen das Übel ist eine gesellschaftliche Pflicht. Ihr stärkster Ausdruck ist bislang ein Verteidigungskrieg gegen eine kriminell aggressive, angreifende Nation gewesen. Wenn Widerstand selbst ein Übel ist, dann ist der Krieg die übelste Form dieses Übels. Das Auftauchen der Atombombe ist ein Zeichen dafür, daß heute eine neue Einstellung gefunden werden muß, daß der alte Weg, einen Verteidigungskrieg zu führen. den neu entstandenen Problemen nicht mehr gerecht wird. Wenn der Mensch ein für allemal den Krieg beenden und Frieden finden will, muß er dies gleichermaßen innerlich wie äußerlich tun. Er kann das eine tun, indem er der Herrschaft der tierischen, aggressiven Emotionen in seinem Innern wie etwa Gier, Wut, Rachsucht und Haß ein Ende setzt, und er kann das andere tun, indem er mit dem Morden seiner Mitgeschöpfe aufhört, seien es Menschen oder Tiere. Er darf nach Belieben seine defensiven Vorkehrungen treffen, aber er muß dort halt machen, wo es ans Töten anderer Menschen geht. Die Weigerung zu töten würde dann mächtige spirituelle Kräfte wecken, und wenn hinreichend viele Menschen sie erweckten, wäre das Ende des Krieges sicher. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß solch ein idealistischer Kurs bei mehr als nur einer kleinen Minderheit der Menschen Anklang finde, so daß ein Ende des Krieges, will man es auf irgendeine andere Weise herbeiführen, nur durch die politische Methode einer internationalen Kontrollarmee zu erreichen ist, die einem Weltbund der Völker untersteht. Da es einen solchen Bund heute nicht gibt, kann er nur durch die harten Lehren entstehen, die aus den entsetzlichen Zerstörungen eines Atomkrieges zu ziehen waren. gibt keine Alternative zu einem solchen Krieg als den Verzicht auf das Recht zu töten.

Wenn das, was für die Masse der Menschen mit ihren beschränkten Maßstäben richtig ist, für den Schüler des Weges mit seinen höheren Standards nicht richtig sein muß, so gilt doch auch das Gegenteil. Der Kodex, nach dem der Suchende leben muß, ist weit jenseits des Begreifens und der Reichweite der Masse. Wollte er versuchen, ihn der Masse aufzuzwingen, so würde er damit nur moralische und soziale Verwirrung stiften und sie aus dem Gleichgewicht bringen.


7. DER VERSTAND

 

Die meisten von uns gehen von einem Standpunkt zu einem anderen über, sei er niedriger oder höher, weil unsere Gefühle sich dorthin verlagert haben. Der Verstand registriert und rechtfertigt eine solche Verlagerung nur und verursacht sie nicht.

Ein ursprüngliches, tief dringendes Denken kann weitreichende Leistungen vollbringen, kann viel bislang noch Unbekanntes aufdecken; aber das Geheimnis des Denkers selbst kann es nicht lösen, sofern es nicht auf sein Recht dazu verzichtet und in völligem Stillschweigen das göttlichere Selbst wirken läßt.

Da die Philosophie darauf abzielt, eine vollkommen abgerundete Psyche auszubilden, teilt sie nicht die fanatischen und extremen Auffassungen einiger mittelalterlicher abendländischer Mystiker und moderner indischer Yogis, die jede intellektuelle Betätigung vom Pfad des Suchenden verbannen und das Studium nicht nur als unnütz, sondern sogar als schädlich betrachten. Es stimmt: Wenn ein Lernender immerzu liest und niemals verdaut, was er liest, oder niemals danach handelt, wird er kaum Fortschritte machen. Dennoch kann man nicht behaupten, er vertue seine Zeit ganz und gar, denn er erwirbt sich Kenntnisse. Und wenn seine Lektüre Werke der großen Meister einschließt, wird er sich auch Inspiration erwerben. Wenn er überdies recht lesen gelernt hat, wird er sich noch ein Drittes erwerben, nämlich einen Ansporn zum eigenen Denken und Überlegen. Ja! Ein inspiriertes Buch und ein guter Leser stellen zusammen nicht unbedingt eine unspirituelle Verbindung dar, aber die zuvor genannten Vorbedingungen sollten nicht vergessen werden. Was er liest, sollte er verdauen. Er sollte lernen zu denken, unter dem Anstoß dessen, was er liest, seine eigenen Gedanken zu bilden. Ansonsten kann er, je mehr er liest, um so irrer vor widersprüchlichen Ideen und Lehren werden. Und noch einmal: Lesen und Denken müssen zum Handeln führen und dürfen ihn nicht unnütz in der Welt der Träume und Theorien schweben lassen.

 

Die Philosophie nimmt nicht die anti-intellektuelle Haltung so vieler mittelalterlicher Asketen und ihrer modernen Nachfahren ein. Denn sie erklärt, daß metaphysisches Denken den Denker bis an die Schwelle mystischer Intuition bringen kann. Sie behauptet, daß er sich durch das Ausharren in abstraktem Nachsinnen die Gnade des höheren Selbst verdienen und immer näher an die höchste Wahrheit herangeleitet werden kann. Aber es gibt eine notwendige Vorbedingung für einen solchen Triumph. Der Denker muß sich zuerst dem Exerzitium einer Selbstläuterung unterziehen. Seine Gedanken, seine Gefühle und seine Handlungen müssen einer längeren Schulung und einer ständigen Regulierung unterworfen werden, wodurch jene Faktoren, die sein Denken verfälschen oder das Aufkommen echter Intuition verhindern, ausgemerzt oder doch immerhin reduziert werden. Daher muß sein Charakter verbessert, sein egoistischer Instinkt bekämpft, müssen seine Leidenschaften beherrscht, seine Vorurteile vernichtet, seine Neigungen korrigiert werden. Weil so viele dieses Exerzitium nicht durchlaufen haben, sind sie von der Denktätigkeit zu einem elenden Materialismus verleitet worden. Denn die Philosophie behauptet, daß das Denken des gewöhnlichen Menschen durch seine niedere Natur verdorben wird, in die er vollkommen verstrickt ist. Daher muß er dieses Denken weitgehend von der Knute der niederen Natur befreien, wenn es zu wahren Schlußfolgerungen führen soll, wenn es zur Erkenntnis seiner eigenen Begrenztheit führen soll und wenn es die Intuition dazu anhalten soll, wach zu werden und es im geeigneten Moment zu ersetzen. Genau wie die Erziehung des Verstandes und die Pflege der Höflichkeit einen Menschen von einer niederen Gesellschaftsklasse in eine höhere erhebt, so erhebt die Läuterung von Denken, Fühlen und Wollen seinen Geist in eine Sphäre höherer Wahrnehmung als zuvor. Somit begrüßt die Philosophie die Beschäftigung mit Metaphysik und nimmt sie in ihren Gesamtentwurf auf.

Es gleicht den zwei Seiten derselben Münze, daß man über eine Sache nur im Vergleich mit einer anderen nachdenken kann, daß unser ganzes Denken daher immer und unbedingt dualistisch ist und daß es sich nicht erhoffen kann, das Eine richtig zu erfassen. Deshalb verlangt die logische Vollendung dieser Gedanken, daß es den Kampf aufgeben, freiwilligen Selbstmord begehen und das Eine selbst aus der Stille zu sich sprechen lassen muß. Aber dies darf nicht vor der Zeit geschehen, oder die Stimme, die laut wird, wird die Stimme unserer eigenen persönlichen Gefühle sein, in der nicht Das spricht, woraus das Gefühl selbst hervorgeht. Das Denken muß zuerst - und zwar bis zum Äußersten - seines besonderen Amtes walten und den Menschen zu reflexivem Selbstbewußtsein bringen, bevor es von Rechts wegen seinen Sitz räumen darf. Und das heißt, daß es sich zuerst das angestrengteste abstrakte Nachdenken über sein eigenes Selbst zur Aufgabe setzen muß. Es muß sich also an eine metaphysische Arbeit wagen und diese auch durchziehen. Dies ist es, was der durchschnittliche Mystiker selten begreift. Er ist zu Recht darauf erpicht, seine aufsässigen Gedanken abzutöten, aber er ist zu Unrecht darauf erpicht, sie abzutöten, bevor sie ihm wirksame Hilfe auf seiner Suche geleistet haben.

Unsere Sinne können nur das wahrnehmen, zu dessen Wahrnehmung sie geschaffen sind. Ähnlich kann unsere Vernunft etwas nicht erfassen, zu dessen Erfassen sie in keiner Weise geschaffen ist. Innerhalb ihres jeweiligen Wirkungsbereichs sollten wir Sinne und Vernunft in dem, was sie ausrichten können, gelten lassen, aber außerhalb dieser Bereiche müssen wir nach etwas Ausschau halten, was beide übersteigt.

Aber der Hauptgrund für das Ungenügen der Vernunft liegt darin, daß der Verstand - das Instrument, mit dem sie wirkt - seinerseits ungenügend ist. Vernunft ist die rechte Ordnung des Denkens. Jeder derart eingeordnete Gedanke hängt, was seine Existenz anbelangt, von einem anderen Gedanken ab und ist außerstande, ohne eine solche Beziehung zu existieren, das heißt, er unterliegt der Relativität. Somit kann ein Gedanke nicht als etwas an sich letztgültiges betrachtet werden, und daher kann die Vernunft das Absolute nicht erkennen. Der Verstand kann die Formen des Seins Stück für Stück auseinandernehmen und uns sagen, woraus sie bestehen. Aber eine solche chirurgische Zerlegung kann uns nicht verraten, was das Sein selbst ist, weil dies etwas ist, was es zu erfahren und nicht nur zu denken gilt. Sie kann erklären, was in die Komposition eines Gemäldes eingegangen ist. Aber mit ein wenig Nachdenken erkennen wir, daß sie nicht erklären kann, warum wir für den Zauber des Gemäldes empfänglich sind. Der analytische Verstand beschreibt die Wirklichkeit hinreichend, um unsere Emotionen und unsere Intelligenz einigermaßen zufriedenzustellen, aber an diese verwirrende, sich stets entziehende Wirklichkeit rührt er in keiner Weise. Was er zerlegt hat, ist nicht der lebendige, pulsierende Körper, sondern sein kaltes, totes Abbild.

Wenn die Vernunft uns sagt, daß Gott ist, dann erkennt sie Gott nicht wirklich. Die Fühler intellektuellen Forschens können nicht in das Überselbst eindringen, weil das Denken nur Beziehungen zwischen Ideen herstellen kann und daher für immer in den Sphären der Dualitäten, Endlichkeiten und Individualitäten verbleiben muß. Es kann nicht das Ganze erfassen, sondern nur Teile. Deshalb ist die Vernunft, die vom Denken abhängt, untauglich, das geheimnisvolle Überselbst zu begreifen. Seine Erkenntnis muß erfahren und empfunden werden; das Denken kann nur andeuten, was es wahrscheinlich ist und was es wahrscheinlich nicht ist. Mit den Worten Ghazzalis, des Sufis: «Trunkenheit zu definieren, zu wissen, daß sie durch Dämpfe bewirkt wird, die vom Magen aufsteigen und den Sitz der Intelligenz umwölken, ist etwas anderes, als trunken zu sein. So fand ich, daß höchste Erkenntnis aus Erfahrungen besteht und nicht aus Definitionen.» Die Tatsache, daß die Metaphysik alles Seiende ausschließlich intellektuell zu erklären und die menschliche Natur in begriffliche Schemata zu pressen versucht, veranlaßt sie dazu, die nichtintellektuellen Elemente in beiden zu unterdrücken oder zu entstellen. Die Folge davon ist, daß die Metaphysik allein nicht zu einem angemessenen Verständnis gelangen kann. Wenn sie darauf besteht, ihre Resultate zu beweihräuchern, erzeugt sie Mißverständnisse.

Die Metaphysik befaßt sich für gewöhnlich mit der Kritik oberflächlicher Ansichten über die Erfahrungswelt und der Berichtigung irriger Vorstellungen, wobei sie danach trachtet, eine akkurate systematische und rationale Deutung des Seins als eines Ganzen aufzustellen. Dies ist innerhalb gewisser Grenzen gut, weil es uns zuträglich und nicht abträglich ist, wenn wir eine metaphysische Grundlage für unsere Anschauungen finden. Es ist jedoch ganz klar, daß metaphysische Systeme allein unserer höheren Absicht nicht genügen können, denn wenn sie die Menschen auch teilweise aufklären, so verwirren sie sie doch auch durch ihre gegenseitigen Widersprüche, da sie auf persönlichen Mutmaßungen, Folgerungen und Phantasien beruhen.

Hier springt die Philosophie ein und bietet die, wie sie es nennt, «Metaphysik der Wahrheit» an. Sie ist eine auf intellektueller Ebene vorgenommene Deutung der Resultate, die durch direkte mystische Einsicht in das, was sich dem intellektuellen Erfassen entzieht, gewonnen wurden Durch diese höhere Einsicht liefert sie in geordneter Form die Gründe, Gesetze und Bedingungen übersinnlicher Erfahrung des Überselbst, vereinheitlicht und erläutert die Erfahrungen, die zu diesem Gipfelpunkt führen, und setzt schließlich das Ganze in Beziehung zum praktischen alltäglichen Leben der Menschen. Sie ist das einzige System, das die Weisen des Altertums intellektuell errichteten, nachdem sie tatsächlich des Überselbst in ihrem eigenen Erleben innegeworden waren. Dieser Punkt muß nachdrücklichst betont werden, denn er unterscheidet das System von alten anderen, die den Namen Metaphysik oder Philosophie tragen. Während diese anderen nichts als intelligente Vermutungen oder bruchstückhafte Vorahnungen dessen sind, was die höchste Wahrheit oder die höchste Wirklichkeit sein könnte, und deshalb immer wieder mit einem neuen Wenn und Aber aufwarten, beruht es allein auf Wissen aus erster Hand und legt dar, was sie wirklich sind. Es weist alle Spekulation von sich.

Genau wie die Wissenschaft eine rationale Intellektualisierung gewöhnlicher physischer Erfahrung ist, so ist die Metaphysik der Wahrheit eine rationale Intellektualisierung der weitaus erhabeneren transzendentalen Erfahrung. Sie ist in der Tat ein Versuch, dasjenige in konventionelles Denken zu übersetzen, was seinem Wesen nach jenseits solchen Denkens liegt. In intellektueller Sprache ausgedrückt, ist sie wissenschaftlich in ihrem Geist, rational in ihrer Einstellung, vorsichtig in ihrer Aussage und durch und durch sachlich. Sie hat sich der unerbittlichen Enthüllung des Irrtums, der furchtlosen Beseitigung der Illusion und der hartnäckigen Verfolgung der Wahrheit bis zum Ende verschrieben - ohne Rücksicht auf persönliche Erwägungen. Sie trachtet danach, das Lebensganze zu verstehen und nicht nur einige einzelne Aspekte davon.

Unser Rat lautet: Studiere die Metaphysik bis zum letzten, und dann sieh zu, daß du den Absprung von ihr schaffst, bevor du ein reiner Metaphysiker wirst! Fängst du erst an, metaphysischen Jargon zu reden, bist zu verloren.


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