Augenblicke der Wahrheit

4. GRUNDÄTZLICHES ZUR MEDITATION

 

Die Meditation ist nicht als ein Selbstzweck zu betrachten, sondern als eines der Hilfsmittel, mit denen der wahre Zweck zu verwirklichen ist.

Die Philosophie lehrt die Menschen nicht, den Kopf völlig leer zu machen, sie sagt nicht: Treib alle Gedanken aus, sei träge und passiv. Sie lehrt die Reduktion aller Denktätigkeit auf einen einzigen Keimgedanken, und dieser hat entweder fragend zu sein, etwa: «Was Bin Ich?», oder Positiv, etwa: «Das Göttliche ist mit mir.» Es stimmt, daß das Aufgehen des Überselbstbewußtseins beim ersten sachten Erleben das Eingehen der letzten Gedanken bedeutet, die äußerste Stille des Geistes. Aber dieses Stadium geht vorbei. Es wiederholt sich jedesmal, wenn man in die tiefste Trance eintaucht, die verzückteste meditative Versunkenheit. Und sie muß dann von selbst kommen, herbeigeführt durch die Gnade des Höheren Selbst, nicht durch die Gewalt des niedrigeren Selbst. Ansonsten ist das reine geistige Leergefegtsein eine gefährliche Verfassung, die von umsichtigen Suchenden vermieden werden sollte. In ihr ist das Risiko des Spiritismus und der Besessenheit gegeben.

Meditation ist in gewisser Beziehung eine Anstrengung. In ihr versucht man als erstes, sich seinem innersten Kern anzunähern, indem man sich aktiv eine Bahn durch den Dschungel belangloser Gedanken bricht, und als zweites, darin einzudringen, indem man sich passiv dem abstrahlenden Einfluss dieses Zentrums der eigenen Psyche fügt, welches in der Tat der göttliche Geist ist. Im ersten Stadium ist ein entschlossener Wille vonnöten, um die lästigen Eindringlinge zu überwinden und zu verscheuchen, die alle Erfolgsaussichten zunichte machen würden. Im zweiten Stadium wäre die Betätigung des Willens genauso Destruktiv, denn nunmehr wird eine entgegengesetzte Haltung verlangt - völlige Hingabe des Ich.

Der einzige Weg, um zu erfahren, was Meditation bedeutet, besteht darin, zu üben und noch einmal zu üben. Dazu gehört ein täglicher Rückzug aus dem Kreislauf von Routine und Machen, ungefähr eine Dreiviertelstunde, wenn möglich, und die regelmäßige Durchführung einer Übung. Die Form, die eine solche Übung annehmen sollte, hängt zum Teil davon ab, was man selbst bevorzugt. Es kann eine der förmlichen Übungsfolgen aus einem Buch sein, oder es kann ein Thema sein, das einem Satz in irgendeiner inspirierten Schrift entnommen wurde, deren Wahrheit den Geist nachhaltig beeindruckt hat; es kann eine Charaktereigenschaft sein, deren Mangel in uns dringend spürbar geworden ist, oder es kann ein rein frommes Bestreben nach Gemeinschaft mit dem Höheren Selbst sein. Was es auch sei, die persönliche Anziehung sollte stark genug sein, unser Interesse zu wecken und unsere Aufmerksamkeit zu fesseln. Ist das der Fall, können wir das Thema unablässig in unseren Gedanken hin und her wenden. Wenn dem Genüge getan wurde, ist das erste Stadium (die eigentliche Konzentration) abgeschlossen. Leider verbringt man diese Periode meistens zum großteil damit, von außen kommende Ideen und ablenkende Erinnerungen abzuschütteln, so daß einem wenig Zeit bleibt, um zur wirklichen Konzentration selbst zu kommen. Das Gegenmittel ist wiederholtes Üben. Im Nächsten Stadium wird eine Willensanstrengung unternommen, um die Welt der fünf Sinne, ihre Eindrücke und Bilder auszuschließen und dabei die Bahn des Meditativen Denkens weiterzuverfolgen. Hier trachten wir danach, die konzentrierte Haltung zu vertiefen, zu bewahren und zu verlängern und gleichzeitig die äußere Umgebung zu vergessen. Die Vielfalt der Sinneswahrnehmungen - Sehen, Hören usw. - hält uns für gewöhnlich davon ab, uns dem Inneren Selbst zu widmen, und in diesem Stadium muß man sich dazu erziehen, dies zu korrigieren, indem man bewußt die Aufmerksamkeit von den Sinnen abzieht. In der Anfangsphase dieses Stadiums wird uns zumute sein, als ob wir gegen eine unsichtbare Tür hämmerten, auf deren anderer Seite das geheimnisvolle Ziel unseres Strebens liegt.

Man sollte voll und ganz Einsehen und Anerkennen, wie wichtig es ist, den durch Nichts und Niemanden vorgeschriebenen Termin der Meditationsstunde pünktlich einzuhalten. Wenn man darauf achtet, bei gesellschaftlichen und beruflichen Verpflichtungen Wort zu halten, dann sollte man zumindest nicht weniger darauf achten, das auch bei spirituellen Verpflichtungen zu tun. Nur wenn man dahin gelangt, das Überselbst ehrfürchtig als den unsichtbaren und schweigenden Anderen zu betrachten, mit dem man sich zusammensetzt, nur wenn man dahin gelangt, das Ausbleiben zum festgesetzten Zeitpunkt als eine ernste Angelegenheit zu betrachten, besteht eine Aussicht darauf, daß diese Übungen irgendwann einmal Früchte des Erfolges tragen. Man macht die sonderbare Erfahrung - und sie geschieht zu oft, als daß sie bedeutungslos sein könnte -, daß das Eine oder Andere Hindernis auftritt, um einen von der Erfüllung dieser heiligen Pflicht abzuhalten, oder daß sich eine reizvolle Alternative anbietet, um einen davon wegzulocken. Das Ich begehrt gegen den Eingriff in seine eingefahrenen Gewohnheiten auf und widersetzt sich dem bemühen, zu seinen Fundamenten vorzudringen. Man muß diesem Widerstand widerstehen. Man darf sich keine Ausrede gestatten. Die Entscheidung, sich zu einer bestimmten Zeit zur Meditation hinzusetzen, darf nicht kläglich zurückgenommen werden, einerlei, welcher Druck von außen auf einem lastet oder von Innen aufkommt. Man bedarf vielleicht seiner ganzen Standfestigkeit, um sich von anderen Menschen loszumachen und die nötige Einsamkeit zu finden oder um mit dem Aufzuhören, was man gerade macht, und dieses sich selbst gegebene Versprechen einzuhalten, aber am Ende ist es der Mühe wert.

Der Wahrhaft entschlossene Suchende, der rasch vorankommen möchte, muß sich die frühen Morgenstunden zunutze machen, wenn die Morgenröte die Erde grüßt. Eine solche Stunde sollte für die Meditation über das Höchste freigehalten werden, auf daß zu guter Letzt eine spirituelle Morgenröte ihr ersehntes Licht auf die Seele werfe. Durch diesen einfachen Auftakt ebnet man sich den Tag, bevor er richtig anfängt. Doch von den wenigen, die die Höchste Wahrheit suchen, sind noch weniger dazu bereit, dieses Opfer ihrer Zeit zu bringen, oder sind Willens, auf die Behaglichkeit des Bettes zu verzichten. Die meisten Männer opfern gern einige Stunden ihres Schlafs, um das Zusammensein mit einer Frau zu genießen und ihr Verlangen nach ihr zu befriedigen; aber äußerst wenige Männer sind Willens, einige Stunden ihres Schlafs zu opfern, um das Zusammensein mit der Gottheit zu genießen und ihr Verlangen nach Gotterkennen zu befriedigen.

Es ist ein gängiger Irrtum zu Meinen, daß deshalb, weil einem aus der Übung keine Frucht zu erwachsen scheint, weder Gefühl noch Erleben daraus resultieren, die darauf verwandte Zeit vergeudet sei. Daher kommt es, daß so viele sie nach einem kürzeren oder längeren Versuch aufgeben. Aber wie kann das Ich wissen, daß sogar der einfache Akt, in ergebener Demut und Geduld und Ausdauer wie ein Bettler vor der Tür des Überselbst zu sitzen, ein Akt des Glaubens ist, dessen Belohnung sicher ist, wenn auch vielleicht nicht die Form dieser Belohnung?

Eine Hilfe Ist Bhakti, Liebe. Liebe ist wesentlich für die Meditation; sie ist eine bindende Kraft, bestehend aus Andacht und Ehrfurcht. Das Ziel ist es, vereint zu werden. Erfolgreiche Meditation heißt, mit dem höheren Selbst eins zu werden (Einheit zu erlangen). Meditation sollte ein Sehnen danach sein, zu seinem Ort im Universum heimzukommen.

Die Meditation kann mißbraucht werden. Sie ist dann keine Hilfe mehr zur geistigen Befreiung des Menschen, sondern eine weitere Knechtschaft, die ihn davon abhält. Sie wird mißbraucht, wenn das Ziel darin besteht, okkulte Kräfte zu erwerben. Diese liebedienern nur der Aufgeblähtheit des Ich. Sie wird mißbraucht, wenn das Ziel darin besteht, ein Prophet, Lehrer oder Reformer zu werden, der Menschen beeinflußt oder führt. Dies nährt bloß den spirituellen Ehrgeiz des Ich, der dieselbe Kraft ist wie der weltliche Ehrgeiz, nur daß er auf einer höheren Ebene wirkt.

Man muß den Anfänger im Meditieren vor den Fehlern und Gefahren warnen, denen er nur allzu leicht erliegt. Der größte Fehler besteht darin, die Beimengungen des Ich zur eigenen mystischen Erfahrung zu übersehen; die größte Gefahr besteht darin, sich von einer tranceartigen Passivität überkommen zu lassen, weil man meint, es sei eine mystische Passivität.

Wenn das für alle Gedanken charakteristische Umherschweifen die Aufmerksamkeit ablenkt und die Bemühung zu meditieren vereitelt, versuche es auf andere Art Befrage die Gedanken selbst, mache ihren Ursprung ausfindig, spüre ihren Anfang auf, und verringere ihre Zahl immer mehr. Finde heraus, welches besondere Interesse oder Antriebsgefühl oder Verlangen im Ich sie entstehen läßt, und dränge diese Ursache immer weiter gegen die Leere zurück. So rückst du zusehends von den Gedanken ab, lehnst es ab, dich mit ihnen zu identifizieren, und gelangst immer weiter zurück zu deiner höheren Identität.

Wenn die Wirkung der Konzentration eintritt, flauen die hin- und herwogenden geistigen Wellen ab und die emotionalen Unruhen legen sich. Dies ist der psychische Augenblick, da der Mystiker ganz natürlich eine gehobene, friedvolle und überirdische Stimmung empfindet. Aber es ist auch der psychische Augenblick, da er, wenn er klug ist, das Schweigen in persönlicher Befriedigung über dieses Gelingen sein läßt und durch tieferes Eindringen versucht, die innere Beschaffenheit der Quelle zu begreifen, aus der ihm diese Empfindungen erstehen, den reinen Geist.

Ist das Experiment zu schwer? Wie kann ein Mensch aufhören zu denken? Ich erinnere mich jetzt, daß nicht davon die Rede war, man solle vorsätzlich zu denken aufhören. Nein, es hieß: «Geh unerbittlich der Frage <Was bin ich?> nach!» Nun bin ich ihr bis zu diesem Punkt nachgegangen. Ich kann mein Ich definitiv weder im Körper noch im Verstand festmachen. Wer bin ich also? Jenseits von Körper und Verstand ist bloß - nichts! Mir kam der Gedanke: «Gib jetzt acht auf dieses Nichts.»

Nichts?... Nichts?... Nichts?... Langsam und unmerklich glitt ich in eine passive Haltung. Danach kam ein Gefühl sich vertiefender Ruhe. Subtil und ungreifbar kehrte Seelenruhe in mich ein. Sie war angenehm, sehr angenehm und beruhigte Nerven, Geist und Herz. Das Gefühl von Frieden, das mich umfing, während ich so still dasaß, schwoll sacht zu unsäglicher Wonne an, zu einer wunderbaren Gelöstheit. Die Wonne wurde so durchdringend und heftig, daß ich weiterzudenken vergaß. Ich gab mich ihr einfach so inbrünstig hin, wie sich eine Frau dem Mann hingibt, den sie liebt. Was für ein Segen ward mir zuteil! War es nicht ein Zustand wie dieser, den Jesus meinte, als Er von dem Frieden sprach, «welcher höher ist als alle Vernunft»? Langsam verrannen die Minuten. Eine halbe Stunde später war mein Körper noch immer regungslos, der Blick noch immer fest, die Augen noch immer stumpf für ihre Umgebung, ihrer gar nicht gewahr. Hatte ich die mystischen Tiefen meines eigenen Geistes ausgelotet? Die Ungeduld hätte ihr rastloses Haupt aufrecken und das Ergebnis vollkommen verderben können. Ich sah, wie müßig es war, ständig zu versuchen, unsere gewohnte Rastlosigkeit unter solch unvertrauten Umständen anzubringen.

Wenn dein letzter Gedanke am Abend und dein erster Gedanke am Morgen auf das Überselbst gerichtet ist, dann kannst du gewiß sein, gute Fortschritte in der Meditation gemacht zu haben.

In der frühen Phase der geistigen Entwicklung wird uns das höhere Selbst in der Form eines mentalen Bildes zugänglich, das für unsere menschlichen Sinne erfahrbar ist. In den späteren Stadien jedoch wird man es erfahren, wie es als solches ist, also als Reines Sein, ohne jegliche Form.

 


5. DER KÖRPER

 

Der Körper ist ebenso sehr eine göttliche Projektion wie der Planet, auf dem er weilt. Er ist nicht dämonisch oder auch nur ein Symbol für des Menschen traurigen Absturz. Jede Gewebezelle, Knochenzelle, Nervenzelle und Muskelzelle, aus der er gebaut ist, ist selbst ein Ausdruck göttlicher Intelligenz und Absicht. Er ist ein verkleinertes Abbild des Universums.

Die Sorge für den Körper bis zu dem Punkt, daß man lernt, wie man ihn richtig pflegt, wie man ihn bei guter Gesundheit und bei Kräften hält, ist einem bei der Sorge für die Seele nur behilflich und nicht etwa hinderlich. Ein Mensch, dessen Körper am Zusammenbrechen ist, dessen Organe nicht richtig arbeiten können, um dessen Lebenskraft es schlecht steht, wird sich wahrscheinlich mehr Sorgen und Gedanken um seinen Körper machen als einer, der frei von diesen Nöten ist. Wie kann er unter solchen Umständen das Fleisch vergessen? Er wird sich seiner nur allzu oft kläglich bewußt sein. Hochtrabende Ratschläge, die den Körper mißachten und dem Betreffenden nichts darüber verraten, wie er mit ihm umzugehen habe, mögen seinem Ohr erhebend klingen, machen aber sein Problem nicht geringer. Jede Lehre, die den Körper nicht beachtet, die ihn als ein unablässiges Ärgernis bestehen läßt, muß zwangsläufig einseitig und unvollständig sein. Eine solche Gleichgültigkeit gegenüber dem Wohlergehen des Körpers kann nicht die Lehre wahrer Weisheit sein und kann deshalb auch nicht verteidigt werden.

Die Intoleranz mancher aggressiver und fanatischer Gegner des Fleischverzehrs, Rauchens und Alkoholgenusses ist selbst ein Laster, das sie auf andere Art genauso schädigt, wie die besagten schlechten Angewohnheiten solche schädigen, die ihnen verfallen sind.

Der Verzehr von fleischlicher Nahrung und zu einem geringeren Grad von tierischen Erzeugnissen engt das menschliche Bewußtsein auf eine Sichtweise ein, die von den tierischen Neigungen beeinflußt ist. Will es wahrhaft menschlich werden, muß es sich von der Abhängigkeit von solchen Nahrungsmitteln und solchen Erzeugnissen befreien, deren Zellsubstanz natürlich von solchen Neigungen durchtränkt ist.

Solange das Schlachten von Tieren für die menschliche Ernährung wirklich unnötig ist, solange bleibt es ein sittliches Verbrechen, ein uralter Schandfleck auf ganzen Völkern, gegen den Propheten und Heilige, Seher und Lehrer gewettert und gemahnt haben. Denn nach dem Gesetz der Vergeltung mußten die - wenn auch noch so unbewußt - Schuldigen dafür büßen. Wenn sie feststellen, daß ihre Gebete um Gnade an die höhere Kraft unbeantwortet bleiben, mögen sie sich daran erinnern, daß auch sie keine Gnade walten ließen.

Wir bestreiten nicht die Klugheit und Wirksamkeit der Hatha-Yoga-Methoden, sondern erkennen sie im Gegenteil voll an. Sie sind sinnreich darauf abgestellt, ihre besonderen Ziele zu erreichen, und auch dazu in der Lage. Doch was wir bestreiten, ist erstens ihre Eignung und zweitens ihre Sicherheit für den modernen westlichen Menschen. Und wir stellen diese beiden Behauptungen sowohl aufgrund der Theorie als auch aufgrund der Praxis auf. Diese Methoden sind ungemein alt; sie sind in der Tat Überreste atlantischer Systeme. Die geistige und körperliche Beschaffenheit der Völker, für die sie ursprünglich vorgeschrieben waren, sind nicht dieselben wie die der weißen euroamerikanischen Völker. Die Evolution ist während der Jahrtausende zwischen dem Auftreten der Alten und dem Auftreten der Modernen eifrig am Werk gewesen. Wichtige Veränderungen haben sich im Nervensystem und den Gehirnbildungen der Gattung Mensch vollzogen. Nach den alten Schriften, die aus zeitlosem Altertum auf uns überkommen sind, stellt der Trancezustand den Gipfel der Vollendung im Hatha-Yoga dar. Aber es ist eine gänzlich unbewußte Art von Trance. Wir haben dies von den Lippen von Hatha-Yogis vernommen, die sich in dem System vervollkommnet hatten. Sie ist in der Tat nicht geistiger als ein vorsätzlich und willentlich herbeigeführter extremer Tiefschlaf, obwohl sie physisch dem Körper vorübergehend außerordentliche Kräfte verleiht. Selbst wo die Trance so ausgedehnt wird, daß der Yogi mehrere Tage oder Wochen lang ohne Essen oder Trinken bei lebendigem Leib in der Erde begraben werden kann, ist er in der ganzen Zeit geistig völlig untätig und seines eigenen Selbst in keiner Weise gewahr. Sein Herzschlag und seine Atmung sind dann extrem niedrig, ja menschlichen Sinnen nicht wahrnehmbar, wenn auch empfindlichen elektrischen Instrumenten wie dem Kardiographen.

Inwiefern unterscheidet sich dieser Zustand vom Winterschlaf der Tiere? In den nördlichen Klimazonen ziehen sich bestimmte Reptilienarten, Nagetiere, Bären, Eidechsen, Murmeltiere und Fledermäuse, wenn das kalte Wetter kommt und die Nahrung knapp wird, an abgelegene Orte zurück, in Berghöhlen oder geschützte unterirdische Erdlöcher, und verbringen dort den ganzen Winter im Tiefschlafzustand, in dem die Lebenstätigkeit zeitweise aussetzt. In tropischen Klimazonen machen bestimmte Schlangen- und Krokodilarten genau das gleiche, wenn die heißesten Monate kommen. Es ist besonders interessant festzustellen, daß Vögel wie das Steißhuhn bei jähem Erschrecken in eine starrkrampfartige Trance fallen und dann für Schmerzen so unempfindlich werden wie Hatha-Yogis in der gleichen Verfassung. In beiden Fällen handelt es sich nur um einen hypnotischen und nicht um einen spirituellen Zustand. Sein Wert für die geistige Erleuchtung, ganz zu schweigen von sittlicher Besserung, ist gleich Null.

Warum haben so viele Urkulturen in Asien, Afrika und Amerika die Schlange verehrt? Eine vollständige Antwort würde einige der wichtigsten Prinzipien der Metaphysik und eine der am wenigsten bekannten Praktiken der Mystik zur Sprache bringen - die Erweckung der Kraft, die symbolisch mit dem Namen «Schlangenfeuer» bezeichnet wird. Die hochentwickelten Okkultisten Tibets vergleichen den Menschen, der diesen Versuch unternimmt, mit einer Schlange, die man ein hohles Bambusrohr hinaufkriechen läßt. Einmal erweckt, muß sie entweder aufsteigen und oben die Freiheit erlangen, oder sie muß pfeilgerade hinunterfallen. Wer also mit dieser feurigen, aber gefährlichen Kraft zu spielen sucht, wird entweder Nirvana erreichen oder sich in den finsteren Tiefen der Hölle verlieren. Versucht jemand, die Kundalini zu erwecken, bevor er sich vom Haß freigemacht hat, wird er nur zum Opfer seiner eigenen Haßgefühle, wenn er sie tatsächlich aus ihrem Schlafzustand aufweckt. Er würde besser daran tun, mit Selbstläuterung in jeder Hinsicht zu beginnen, falls er es zu einem sicheren und erfolgreichen Ende bringen will. Das Sichaufrichten des Penis ähnelt stark dem Sicherheben der Kobra. Beide werden aus eigener innerer Kraft aufrecht und steif. Wenn das Schlangenfeuer von der Wurzel des Penis aus das Rückgrat hinaufzieht, wird dieses aufrecht und steif. Doch die Sexualität ist nicht die Schlangenkraft, sondern nur die wichtigste unter ihren verschiedenen Ausdrucksformen. Die hochentwickelten Yogis Indiens stellen durch das gepreßte Zischen der Schlange die aggressive Energie dieser sexuellen Kraft symbolisch dar. Sie bilden die Dreifaltigkeit des Vorgangs in ihren Texten als ein Dreieck ab, in dem sich eine zusammengerollte Schlange befindet. Das heftige Feuer der Liebe für das höhere Selbst muß im «mystischen» Herzen entzündet werden, bis es auch eine physische Parallele im Körper zeitigt, bis dessen Temperatur merklich ansteigt und die Haut stark schwitzt. Tiefes Atmen ist ein wichtiger Bestandteil dieser Übung. Es liefert zum Teil die dynamische Kraft, wodurch deren tragende Ideen wirksam werden. Der andere Teil wird durch eine bewußte Sublimierung der sexuellen Energie geliefert, die in der Vorstellung von den Organen im unteren Teil des Körpers zu einem geläuterten Zustand im Kopf emporgeführt wird.

Die sonderbaren Phänomene einer geheimnisvollen Erregung im Herzen und eines innerlichen Zitterns im Solarplexus, der in heftigem Streben nach dem höheren Selbst durch das Rückgrat zum Kopf emporgeführten und von tiefer Atmung begleiteten sexuellen Kraft sowie eines zeitweiligen Bewußtseins der Befreiung von der niederen Natur - sie sind für gewöhnlich die Vorboten eines überaus wichtigen Schrittes vorwärts im Innenleben des Schülers. Ein zweifaches Zittern kann ihn ergreifen. Physisch kann sein Zwerchfell sehr stark beben, wobei sich diese Bewegung wie eine Welle nach oben zur Kehle hin ausbreitet. Emotional kann sein ganzes Wesen von heftigem Schluchzen krampfhaft erschüttert werden. Genau diese körperliche Erregung, dieses nervöse Nachschwingen eines höheren emotionalen Aufruhrs entwickelte sich in den Zusammenkünften der frühen Mitglieder der «Gesellschaft der Freunde» und trug ihnen den Namen «Quaker» (Zitterer) ein. Die Erregung des Gefühls kommt mit der ruhigen Empfindung der Seele zur Ruhe. Das Wirken der Kundalini ist in erster Linie geistig und emotional, das Flattern und Zucken des Zwerchfells ist nur die physische Reaktion. Die Notwendigkeit, den Rücken aufrecht zu halten, besteht nur bei dieser Übung, nicht bei den andächtigen oder intellektuellen Yogas, denn bei solch einer geraden Haltung bleibt die Wirbelsäule frei für das Auffahren des «Schlangenfeuers». Dieses bewegt sich spiralförmig, genau wie eine sich wiegende Kobra, und erzeugt gleichzeitig Hitze im Körper. Wenn das Zittern lang und heftig genug andauert, wird im ganzen Körper ein Hitzegefühl erzeugt, und dieses erzeugt seinerseits wieder das starke Schwitzen. Aber alle diese Symptome sind vorbereitend, und die wirklichen mystischen Phänomene, die eine Abkehr vom Körpergedanken verlangen, fangen erst all, wenn jene abgeklungen sind. Diese Übung isoliert zuerst die in Atem und Sexualität wohnende Kraft, und dann sublimiert sie sie und lenkt sie um. Die Resultate nach dem Abklingen der ersten Aufregung sind (a) ein befreiender Wandel im bewußten Erleben des Körpers, (b) eine kräftigende Entwicklung der Kontrolle des höheren Willens über die tierischen Triebe und (c) eine Konzentration der Aufmerksamkeit und des Empfindens, so vollkommen wie die Konzentration einer Schlange auf ihre Beute. Es ist ein dreifacher Prozeß, der ein dreifaches Ergebnis zeitigt. In den Augenblicken, da die Kraft in den Kopf gebracht wird, fühlt man sich von der Herrschaft des Tierischen befreit; man hat dann den höheren Willen auf die äußerste Spitze getrieben. Kraft und Freude umfangen einen. Das Erreichen dieses Zustands tiefer Kontemplation und seine Festigung durch unablässige tägliche Wiederholung verhelfen einem schließlich zu einem befriedigten Hochgefühl, ganz und vollständig zu sein und daher leidenschaftslos und im Frieden verwurzelt.

An den entgegengesetzten Enden der Wirbelsäule stehen sich Mensch und Tier gegenüber.

Das männliche Element in der Frau und das weibliche Element im Mann müssen genauso gut entwickelt und genauso aktiv ausgedrückt werden, wie die physischen sexuellen Pole bereits entwickelt und ausgedrückt sind - und zwar so weit, daß sie den äußeren Polen die Waage halten können.

Beim recht entwickelten Menschen verbindet sich die Stärke des Mannes mit der Zärtlichkeit der Frau.


  Oben zeilen.gif (1054 bytes)


es/zeilen.gif" alt="zeilen.gif (1054 bytes)" width="40" height="40">