Augenblicke der Wahrheit

1. DIE SUCHE

 

Wir haben hier auf Erden eine heilige Mission. Wir müssen das finden, was Theologen die Seele und Philosophen das Überselbst nennen. Es ist dies etwas, was uns zum Greifen nahe ist und doch gleichzeitig weit von uns entfernt. Denn es ist die geheime Quelle unseres Lebensstromes, unseres Selbstseins und unseres Bewußtseins. Weil aber unsere Lebensenergie fortwährend durch die Sinne ausströmt, unser Selbstsein fortwährend mit dem Körper identifiziert wird und unser Bewußtsein sich niemals auf sich selbst besinnt, kommt es zwangsläufig dazu, daß uns das Überselbst vollkommen entgeht.

Vier Ziele gibt es, die die Philosophie dem Menschengeist steckt: 

  1. sich selbst zu erkennen; 
  2. sein Überselbst zu erkennen; 
  3. das Universum zu erkennen; 
  4. sein Verhältnis zum Universum zu erkennen. 

Diesen Zielen nachzustreben, macht die Suche aus.

Ein bescheidenes Leben, das sich in den Dienst einer großen Sache stellt, wird groß.

Es besteht bei Mystikschülern, Yoga-Übenden und nach spiritueller Wahrheit Suchenden der starke Hang, ihre Suche als etwas gänzlich vom Leben Abgetrenntes anzusehen, genau wie der Briefmarkensammler und der Freizeitgärtner ihr jeweiliges Hobby als etwas betrachten, dem sie zusätzlich zur Routine ihres täglichen Lebens nachgehen können. Das ist ein grundlegender Irrtum. Die Suche ist weder ein ernsthaftes Hobby noch eine angenehme Ablenkung von der Stumpfheit des prosaischen Alltagslebens. Sie ist das wirkliche Leben selbst. Wer das nicht begreift, verfällt infolgedessen in Exzentrizitäten, Egozentrismen, Superioritätskomplexe, Sektierertum, sinnloses Missionieren noch nicht dafür bereiter oder gegnerisch eingestellter Menschen sowie Versuche, anderen etwas aufzuzwingen, was ihnen nicht entspricht.

Wer die Suche von seinem alltäglichen Dasein trennt, grenzt damit das wichtigste Feld seines weiteren Wachstums aus. Solche Menschen werden oft Träumer oder verlieren die praktischen Dinge des Lebens aus dem Griff. Wenn man jedoch irgendeinen dieser Fehler einem Suchenden gegenüber erwähnt, fühlt er sich selten persönlich angesprochen, sondern meint in der Regel, dies träfe nur auf andere Suchende zu. Dies kommt daher, daß er sich als weiter fortgeschritten betrachtet, als er in Wirklichkeit ist.

Die Reise beginnt an dem Ort im Bewußtsein, an dem man sich befindet. Man kann die Geschichte anderer Wanderer wiederholen, die hier und dort, in diesem und in jenem Kult nach der Speise suchen, die ihren inneren Hunger stillt. Auf einer solchen Suche können Jahre vergehen, aber ob sie nun in einem von diesen Kulten endet oder außerhalb aller, eines Tages geschieht etwas mit einem. Der Geist wird plötzlich mit Verständnis erhellt und das Herz mit Frieden erfüllt. Die Erfahrung vergeht bald, aber die Erinnerung daran bleibt lange. So froh hat sie einen gemacht, daß man sich danach sehnt, sie zu wiederholen. Aber ach, gerade dies ist anscheinend etwas, was man nicht einfach machen kann, wie man will. Wenn es wieder geschieht, wird man die Suche genau dort aufnehmen, wo sie wirklich am Platz ist - in seinem Innern. Man wird aufhören, hierhin und dorthin zu schauen, und in vollem Ernst mit der Arbeit an sich selbst beginnen. Man wird seinen Charakter läutern, regelmäßig Meditation treiben und inspirierte Werke studieren müssen.

Ist das innere Leben unvereinbar mit dem Leben der Welt? Religiös-mystische Exerzitien und Praktiken gründen meistens auf solch einer fundamentalen Unvereinbarkeit. Auch die traditionellen Lehren behaupten sie für gewöhnlich. Doch wenn dem so wäre: «Dann», so bemerkte Ramana Maharshi einmal skeptisch zu mir, «gäbe es keine Hoffnung für die Menschheit.»

Die übernervösen intellektuellen und künstlerischen Temperamente, die sich scharenweise auf diesen spirituellen Pfaden drängen, sind mehr als alle anderen dazu prädisponiert, sich zu verirren. Die wundersame Welt des Studierens und Experimentierens, die sich für sie auftut, nimmt sie gefangen. Sie drücken sich gern davor, diese Lehren in ihrer ganzen Wirkkraft auszuleben, und reden lieber bloß darüber. Denn der Widerstand, mit dem man bei der Arbeit in schwieriger Materie zu kämpfen hat, bringt die wirkliche Kraft der Seele zum Vorschein. Er erschwert den Erfolg, macht ihn aber dauerhafter.

In der heiligen Stille wird das Leben der Suche geweiht. Und obwohl einen niemand sonst hört oder von dieser Weihung weiß, ist sie ebenso bindend und verpflichtend wie das feierlichste Gelöbnis vor versammelter Loge.

Menschen, die in ihren Emotionen stark von persönlichen Seelenproblemen befangen sind, wären besser für die Suche gerüstet, wenn sie zuerst ihr Leben in Ordnung oder sich persönlich wieder auf die Reihe brächten. Ob ihre Seelenlage nun neurotisch, hysterisch oder psychopathisch ist, es ist eine unbesonnene Vermessenheit, wenn sie es wagen, eine Anwartschaft auf das Eindringen in die göttlichen Mysterien anzumelden.

Das Opfer, das vom Suchenden verlangt wird, ist nichts Geringeres als sein Selbst. Will er die höheren Weihen des Pfades erhalten, muß er das Denken und Trachten des Ich aufgeben, muß dessen emotionale Reaktionen auf Ereignisse, Personen und Dinge überwinden. Jedesmal, wenn er die ruhelosen Gedanken in stiller Meditation zum Schweigen bringt, gibt er das Ich auf; jedesmal, wenn er seine Wünsche in einer wichtigen Entscheidung hintanstellt, gibt er das Ich auf; jedesmal, wenn er den Körper, die Leidenschaften, das Handeln diszipliniert, gibt er das Ich auf. Das Äußerste wird von ihm verlangt, bevor ihm das Äußerste zuteil wird; er ist gezwungen, mit der Selbsterniedrigung zu beginnen und, was schlimmer ist, mit der Selbstkreuzigung aufzuhören. Jeder Suchende muß diese Prüfung bestehen - es führt kein Weg daran vorbei. In "Licht auf den Pfad" (von Mabel Collins) heißt es von den Suchenden, daß «die Füße im Herzblut gewaschen werden». Die Suche ist also nichts für Schwächlinge. Man ist nicht der erste Suchende und wird auch nicht der letzte sein, der weiter das Ich anbetet und dabei wähnt, er habe begonnen, das Überselbst anzubeten.

Diese falsche Selbstidentifikation ist nicht nur ein metaphysischer Irrtum, sondern auch eine innere Gewohnheit. Wir können den Irrtum wohl intellektuell ausräumen, aber wir müssen immer noch mit der Gewohnheit fertig werden. Sie ist derart eingefleischt, daß sie nur durch eine Anstrengung des ganzen Menschen geändert werden kann. Diese Anstrengung heißt die Suche.

Manche bilden sich ein, der Pfad sei überlaufen. Er ist es nicht. «Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.» Der Wanderer muß lernen, ergeben in teilweiser Einsamkeit dahinzugehen. Das Ringen um sichere Wahrheit und die Suche nach der göttlichen Seele werden von jedem, der die philosophische Ebene erreicht hat, in strenger Vereinzelung verfolgt, und das muß auch so sein. Fortschritt der Menge und massenhafte Erlösung sind hier nicht möglich.

Es stimmt, daß das höhere Selbst den Suchenden von innen her lenken und sogar lehren kann und daß es letztendlich der einzige wirkliche Lenker und Lehrer ist. Aber es stimmt auch, daß er gefährlich irregehen kann, wenn er sich vorzeitig für selbständig hält. Ja, das höhere Selbst wird ihn zu einem anderen menschlichen Helfer leiten, wenn er hinlänglich dafür gerüstet ist. Selbstvertrauen und Unabhängigkeit sind wertvolle Eigenschaften, aber sie können zu weit getrieben werden und dann in Fehler umschlagen. Der Schüler, der sich an seine eigene Lenkung und Inspiration halten kann, ohne Fehltritte zu machen oder Jahre zu vergeuden, darf sich glücklich preisen.

Es ist kein Widerspruch, wenn man Suchenden einmal rät, einen Meister zu suchen und den Pfad der Schülerschaft einzuschlagen, und ihnen ein andermal rät, im Innern zu suchen und den Pfad des Selbstvertrauens einzuschlagen. Die zwei Ratschläge lassen sich ohne weiteres miteinander vereinbaren. Denn wenn der Suchende auf den ersten hört, wird ihn, der Meister dahin führen, in wachsendem Maß Selbstvertrauen zu entwickeln. Wenn er auf den zweiten hört, wird ihn sein höheres Selbst zu einem Meister fuhren.

Kein Suchender sollte so dumm sein, die dargebotene Hand eines würdigen Meisters auszuschlagen. Ja, seine Schwäche und Unwissenheit sind so groß, daß er alle Hilfe benötigt, die er von allen starken und weisen Menschen seiner Zeit wie auch - durch ihre Schriften - vergangener Zeiten bekommen kann. Aber die Beziehung zu einem solchen Meister sollte er deshalb noch lange nicht auf der Grundlage völliger Knechtschaft und intellektueller Lähmung eingehen noch auf der eines totalitären Verbots, bei anderen Meistern oder in anderen Schulen zu lernen. Wenn er sich seine Selbstachtung bewahren will, sollte er sich seine Freiheit zu wachsen und seine Unabhängigkeit zu wählen bewahren.

Eine kleine Gruppe von Schülern, die sich zu ernsthaftem Lernen zusammenfinden, kann für jeden Teilnehmer eine große Hilfe sein, sofern eine grundsätzliche spirituelle Verbundenheit zwischen ihnen besteht. Fehlt diese auch nur bei einem einzigen aus der Gruppe, kann diese Zusammenkunft unter Umständen mehr Verwirrung als Erleuchtung stiften oder kann einige oder alle vergessen lassen, daß jeder, der auf der Suche ist, allein geht.

Dasselbe Licht, das deine geistige Wichtigkeit erhellt, erhellt auch deine persönliche Bedeutungslosigkeit.

Es kommt nicht so sehr auf die Gedanken an, die der Lehrer von sich gibt, als vielmehr auf die geistige Kraft im Schüler, die durch diese Gedanken erweckt wird.

Gib dich nicht anders, als du bist. Wenn du einer aus der Menge bist, dann zieh dir nicht die stolzen Gewänder des Lehrers an und tu nicht so, als könntest du ihn nachmachen; wenn du dich nicht an die Wahrheit hältst, kannst du sie auch niemals finden. Wer sich auf das Podest spiritueller Geltung stellt, bevor er vom Meister oder von Gott dorthin gestellt wurde, macht damit den ersten Schritt zu einem erniedrigenden und schmerzlichen Absturz.

Wenigstens drei Eignungsvoraussetzungen müssen bei einem spirituellen Lehrer vorhanden sein: vollendete Meisterschaft, sittliche Reinheit und mitfühlender Altruismus. Nur wer über das Böse in sich selbst triumphiert hat, kann anderen dazu verhelfen, für sich das gleiche zu tun. Nur wer den göttlichen Geist in sich selbst entdeckt hat, kann andere dazu anleiten, ihn ihrerseits zu entdecken. Eine Unterweisung, die nicht persönlicher Erfahrung entstammt, kann niemals die Wirksamkeit einer Unterweisung haben, bei der das der Fall ist.

Die Intuition, die einen Menschen veranlaßt, auf die Suche zu gehen, ist wie alle authentische Intuition ein Funke - ein Funke der zum Verlöschen gebracht werden kann durch Zweifel, Unentschlossenheit und das Annehmen unverständiger und abschätziger Gedanken anderer, oder der angefacht werden kann durch Vertrauen, Hingabe und das Annehmen förderlicher Hinweise von Menschen, die den Weg bereits gegangen sind und sein Ziel erreicht haben.

Wenn sich ein Mensch zu guter Letzt selbst gefunden hat, wenn er keinen Bedarf mehr an einem äußeren menschlichen Symbol hat, sondern direkt zu seiner eigenen inneren Wirklichkeit vorstößt, darf er sich in dem ältesten, längsten und größten aller Kämpfe Schulter an Schulter neben den Lehrer stellen.


2. DIE ARBEIT AN SICH SELBST

 

Wenn man nicht zu stolz ist, an dem Punkt anzufangen, wo man sich befindet, statt an dem Punkt, wo man einmal war oder jetzt gern wäre, wenn man bereit ist, einen Schritt nach dem anderen zu tun, verwirklicht man vielleicht sein Ziel viel schneller, als es der weniger Bescheidene und Anmaßendere tut.

Es gibt einen Standpunkt, der die Auffassung von sich weist, Besitzlosigkeit und äußerste Armut seien der einzige Pfad zur Spiritualität, und sie durch die Auffassung ersetzt, ein einfaches Leben und eine kleine Anzahl von Besitztümern seien besser. Das ärmliche Leben ist meistens unangemessen und unästhetisch. Wir brauchen so viel Besitz, daß das Leben reibungslos läuft, und ein ästhetisches Zuhause, um Schönheit in unser Leben zu bringen. Um wieviel zuträglicher sind dem Erfolg der Meditation doch beispielsweise ein wohlgeordnetes Zuhause, eine kultivierte und geschmackvolle Umgebung, ein ruhiger und ungestörter Raum oder ein solches Fleckchen im Grünen. Aber so etwas kostet Geld. Mag der Suchende in jungen Jahren auch noch so sehr von idealistischer Verachtung für die Werte der Welt durchdrungen sein, so wird er doch mit der Zeit feststellen, daß selbst die für sein inneres spirituelles Leben wichtigen Dinge für gewöhnlich nur zu haben sind, wenn er genug Geld hat, um sie zu kaufen. Abgeschiedenheit, Einsamkeit, Stille und Muße zum Studieren und Meditieren gibt es nicht umsonst, und ihr Preis ist hoch.

Der Gedanke, daß wir in die Welt gesetzt wurden, um uns von ihr abzukapseln, hat etwas Verrücktes!

Von dem Augenblick an, da man zum erstenmal diesen inneren Pfad betritt, bis zu dem, da man ihn schließlich beendet, wird man periodisch immer wieder auf die Probe gestellt, auf daß sich erweise, aus welchem Holz man geschnitzt ist. Solche Prüfungen werden dem Schüler gesandt, um ihm auf den Zahn zu fühlen, um festzustellen, was er wirklich taugt, und um die Stärken und Schwächen zutage zu bringen, die ihm wirklich und nicht in seiner Einbildung eigen sind. Die Härten, die ihm widerfahren, erproben die Festigkeit des von ihm erreichten Standes und machen deutlich, ob seine innere Stärke sie durchzustehen vermag oder darunter zusammenbricht; die Leiden, die er erduldet, können Lektionen in sein Herz einbrennen, und die Zerreißproben, denen er ausgesetzt wird, können ihn läutern. Das Leben ist Lehrer und Richter in einem.

Jede Handlung muß auf das Feld des Bewußtseins überführt und willentlich getan werden.

Mach es dir zur Gewohnheit, gütig, freundlich, versöhnlich und mitleidsvoll zu sein, bis es dir zum Bedürfnis wird. Was verlierst du schon dabei? Ein paar Dinge dann und wann, ein bißchen Geld hier und da, vielleicht einmal ein Stündchen oder einen Disput? Doch schau, was du gewinnst! Mehr Freiheit vom persönlichen Ich, mehr Recht auf die Gnade des Überselbst, mehr Anmut in der inneren Welt und mehr Freunde in der äußeren Welt.

Für jemanden, der sein eigenes Leben vermurkst hat, ist es müßig, das Leben anderer in Ordnung bringen zu wollen. Es ist überheblich und unverschämt, wenn jemand die Menschheit bessern will und dabei selbst eine Besserung bitter nötig hat. Die Zeit und Kraft, die er solchem Dienst zu opfern gedenkt, sollte er besser zur Arbeit an sich selbst nutzen. Wer sich unter solchen Umständen in den natürlichen Gang des Lebens anderer Menschen einmischt, fischt im trüben und macht sich selbst zum Narren. Nur wenn man sich selbst fest in der Hand hat, besteht überhaupt die Chance, einen echten Dienst zu leisten. Ein Mensch, dessen Innen- und Außenleben voll von Mißerfolgen ist, sollte sich nicht mit seinem ständigen Geschwätz darüber, wie sehr er der Menschheit dienen wolle, gegen die Lehre vergehen. Ein solcher Dienst muß zuerst an dem Punkt ansetzen, der ihm am nächsten ist: seinem eigenen Selbst.

Man sollte sich andere Menschen nicht etwa egal sein lassen oder nicht versuchen, ihnen zu helfen, aber man sollte daran denken, daß man sehr wenig für sie tun kann, solange man selbst noch so eine Wenigkeit ist.

Der Suchende muß an erster Stelle für seine eigene Entwicklung und an zweiter für die der Gesellschaft leben. Erst wenn er diese Entwicklung zur Vollendung gebracht hat, kann er das Verhältnis umkehren. Wenn er in seiner anfänglichen Begeisterung eher ein Reformer oder ein Missionar wird als ein Suchender, wird er sich die Finger verbrennen.


3. ENTSPANNUNG UND EINKEHR

 

Die allzeit an uns ergehende Einladung der Stille, ihre wunderbare Süße zu kosten, ihrer schweigenden Unterweisung zu folgen - nehmen wir sie an.

Wenigstens einmal am Tag sollte man sich zurückziehen - nicht nur von den äußeren Geschäften der Welt, sondern auch von seinen eigenen inneren Konflikten.

In diesen Zeiten der Einkehr sollten wir mit den großen Wahrheiten leben, Geist und Herz in einen Zustand der Reinheit bringen, die krummen Gedanken begradigen und uns dorthin begeben, wo weder Hast noch Druck herrschen.

Was die Philosophie vorschreibt, ist weder ein ausschließlich klösterlicher Zurückgezogenheit gewidmetes Leben noch ein völlig in Betriebsamkeiten aufgehendes Leben, sondern vielmehr eine vernünftige und ausgewogene Verbindung der zwei, eine Mischung, in der der erste Bestandteil zwangsläufig kleiner ist als der zweite.

Will man das Höchste in sich finden, beginnt man vielleicht seine Suche am besten damit, daß man sich aufs Land zurückzieht und einer Beschäftigung nachgeht, bei der man nicht selbstsüchtig zu kämpfen und wütend mit anderen zu konkurrieren braucht. Indem man so weniger ehrgeizig arbeitet und einfacher lebt, hat man bessere Aussichten, die zarte Pflanze des Strebens zu hegen und zu pflegen. Indem man sich so von der hektischen Stadtatmosphäre absondert, wird man das, was man an äußerem Reichtum verliert, an innerem Reichtum gewinnen. Doch wenn man seinen Idealen getreulich folgt, wird man merken, daß dieselbe innere Stimme, die einen fern von allem leben hieß, einen zu Zeiten dazu drängt, vorübergehend auch wieder zurückzukehren und den noch fehlenden Teil seiner Lektion zu lernen. Die meisten notwendigen Lektionen des Lebens können in einsamer Zurückgezogenheit, in kleinen Landgemeinden gelernt werden, aber nicht alle. Die anderen macht man sich nur im geschäftigen Treiben der großen Städte und unter Menschen zu eigen.

Wer ein edles Leben inmitten des Betriebs der Welt führt, steht höher als einer, der ein edles Leben inmitten eines Klosters führt.

Wie viele von uns sind zermürbt von der physischen Unruhe, den häufigen nervösen Anspannungen und dem überdrehten Lärmen und Hetzen unserer Zeit. Oftmals verstricken wir uns in unsere Beschäftigungen, vervielfachen sie dutzendweise, um nur ohne Unterlaß mit diesem oder jenem zugange zu sein. Wir sind gewissermaßen die ahnungslosen Opfer unseres Oberflächendaseins, die unbewußten Sklaven seiner Betriebsamkeit und Begierden, die tanzenden Marionetten seiner Interessen und fixen Ideen. Unser Wille kann sich nicht wirklich frei bewegen, nur scheinbar. Wir brauchen uns nur die Gesichter der Männer und Frauen in unseren Großstädten anzuschauen, um zu erkennen, wie sehr die meisten von ihnen seelischen Frieden entbehren. So extrovertiert sind wir schon, daß es uns unnatürlich ist, wenn der Geist in sich selbst einkehrt, und künstlich scheint, die Aufmerksamkeit fur eine Weile nach innen zu richten. Dies alles bewirkt, daß es uns an den wichtigsten Werten mangelt, hält uns auf einer Stufe fest, wo wir höhere denkende und sich paarende Tiere sind und wenig mehr.

Jeder will leben. Wenige wollen wissen, wie. Wenn die Menschen sich so sehr von der Arbeit auffressen lassen, daß ihnen keine Zeit mehr bleibt zu andächtigem Gebet oder mystischer Meditation oder metaphysischem Studium, dann machen sie sich mit dieser Vergeudung des Lebens genauso schuldig, als wenn sie sich ganz von flüchtigen Vergnügungen auffressen lassen. Wer kein höheres Ideal besitzt, als der Lust nachzujagen und dem Vergnügen hinterher zurennen, hält womöglich die religiöse Andacht für unsinnig, metaphysische Studien für langweilig, mystische Meditation für Zeitverschwendung, moralische Exerzitien für widerlich. Wer kein solches inneres Leben von Gebet und Meditation, Studium und Besinnung pflegt, wird zwangsläufig in Not- oder Krisenzeiten den hohen Preis hoffnungsloser Extraversion bezahlen. Die Bedürfnisse des äußeren Lebens haben in gewissen Grenzen ein Anrecht darauf, befriedigt zu werden, aber sie haben kein Anrecht darauf, die Aufmerksamkeit eines Menschen ganz in Beschlag zu nehmen. Die vernachlässigten und unbeachteten Bedürfnisse des inneren Lebens müssen auch ihren Teil erhalten. Es stimmt durchaus, daß der Mensch essen, wohnen, sich kleiden und sich vergnügen muß. Und es stimmt auch, daß er, sofern ihn ein glückliches Geschick nicht von dieser Notwendigkeit entbunden hat, arbeiten, Handel treiben, planen oder spekulieren muß, um das Geld dafür zu verdienen. Aber dies alles ist noch kein hinreichender Grund dafür, daß er durchs Leben geht und dabei nichts anderes im Kopf hat als Gedanken an leibliche Bedürfnisse oder finanzielle Gewinne. Es ist dort noch Platz für Gedanken anderer Art, die dem geheimnisvollen, schwer faßlichen und subtilen Ding gelten, das des Menschen göttliche Seele ist. Die Jahre verstreichen, und er kann sich eine solche Zeitverschwendung nicht leisten, kann sich nicht den Luxus solcher Extraversion um den Preis leisten, die Fühlung mit dem inneren Leben verloren zu haben.

Das Ashramleben erlegt dem Charakter keine wirkliche Probe auf, höchstens eine kindische. Würde sich der Ashramjünger den ätzenden Säuren der weltlichen Spannungen und Versuchungen, Konflikte und Gefahren aussetzen, so wäre bald heraus, ob er wirklich charakterlich nicht von dieser Welt ist, und würde sich bald der wirkliche Wert seiner frommen Erfolge erweisen.

Ein klösterliches Leben, das keine Gefahren, Kämpfe und konstruktive Tätigkeit kennt, besitzt auch keinen inneren, letztgültigen Wert außer der vorübergehenden Ruhepause, die es einem gewährt. Es ist ohne Risiko, aber auch ohne Gewinn.

Ram Gopal: «In vielen Ashrams, die ich in Indien besucht habe, konnte ich deutlich sehen, daß die Leute, die um die zentrale Figur des jeweiligen Weisen herumquirlten, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle das furchtsame und feige Gebaren von Weltflüchtigen besaßen, die vor dem Leben davonrennen. Sie machten es sich bequem, indem sie zu Füßen dieser Heiligen hockten. Solch eine negative Haltung half ihnen nur, das aufzuschieben, was der echte Suchende kühn in Angriff nimmt.»

Es besteht ein Bedarf an Orten spiritueller Einkehr, wo Laien, die keine Mönche oder Nonnen werden wollen, für einen Tag, ein Wochenende, einen Monat oder zwei hinkommen können, um in einer ablenkungsfreien Atmosphäre nach Wahrheit zu suchen, zu studieren und zu meditieren.

Es gibt nur eine einzige wirkliche Verlassenheit, wenn man sich nämlich von der höheren Macht abgeschnitten fühlt.

Der wahrhaft Suchende geht nicht in die Einsamkeit, weil ihm die Gesellschaft der meisten Menschen unangenehm ist, er sondert sich nicht von der Gesellschaft ab, weil er ihr gegenüber eine säuerliche, zynische Einstellung hat, sondern weil seine innere Reifung der intensiven, ununterbrochenen und ungestörten Sammlung bedarf.

Ein Mensch, der nicht lernt, mit sich selbst allein zu sein, kann auch nicht lernen, mit Gott allein zu sein.

Man muß seine eigene innere Einsamkeit herstellen, wohin man auch geht.

Die ruhesuchenden Weisen wenden sich den Bergen zu, wie sie auch von den entlegensten Enden dieser Erde zu ihnen zurückkehren, wenn sie der Welt müde sind. Denn sie sind alte, oftmals geborene Seelen, und ihr Hang zum Methusalemischen findet in diesen uralten Höhen passende Nachbarschaft. Und sie sitzen dann auf dem schroffen Gestein und schauen hinauf zu den trotzigen Häuptern der Gipfel und saugen den Frieden ein, wie eine Biene den Nektar aus einer Blüte saugt.

Ich lasse die Zeit ausufern und vergehe in ihrem Quell. In der von Minute zu Minute fortschreitenden Dämmerung verschwinden langsam die Berge, das Zimmer auch, die Augen schließen sich, die Kontemplation hört auf, die Leere ergreift von mir Besitz, und es ist niemand mehr da, der noch Kunde geben könnte.


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