Das Licht der Lehre

von Sri Gnanawimala Maha Thero

17. Die gestaltenden Kräfte des Geistes 4. Teil

3. Die Bewußtseinsformationen


Mit der Betrachtung der Bewußtseinsformationen kommen wir heute zum dritten und letzten Kapitel unseres fünfteiligen Vortrages über die gestaltenden Kräfte des Geistes. Erinnern wir uns - Im ersten Kapitel "Körperformationen" haben wir den Geist als bewegende und gestaltende Kraft unter dem Aspekt der Energie betrachtet.

"Geist-gelenkt sind die Dinge", hieß es hierzu in unserem Dhammapada- Vers. -

Im zweiten Kapitel "Geistesformationen" gingen wir ein Stück weiter und faßten den Geist als ein ganzes System geordneter Kräfte auf, als ein komplexes Wirkfeld, welches durch einen laufenden Zu und Abfluß von Information in ständiger Umwandlung begriffen ist. Wir sahen, daß jeder Willensimpuls in der geistigen Struktur einen Eindruck hinterläßt und neue Karmaformationen schafft, während andererseits mit jeder entstehenden und vergehenden Gestaltung Karmaformationen abgebaut werden, wobei die geistige Struktur in der jeweiligen Erscheinungsform der Dinge ihren Ausdruck findet. "Geist- geprägt sind die Dinge" war der Leitsatz dieses zweiten Kapitels.


Die dritte Aussage des Dhammapada- Verses umfaßt nun auch den dritten Aspekt, unter dem die Wirklichkeit betrachtet werden kann, nämlich den der Substanz. "Geist- gemacht sind die Dinge", heißt es hier. Man muß diese Aussage in ihrem vollen Umfang verstehen; ihr Sinn ist nicht nur, daß die Dinge durch den Geist geschaffen wurden, sondern mehr noch: die Dinge bestehen letztlich aus Geist - sie sind nicht nur geistige Gestaltungen, sondern ihrem Wesen nach gestalteter Geist. Dies will besagen: Geist gestaltet die Dinge nicht aus einem vorgegebenen Etwas, sondern Geist formt sich selbst zu den Dingen. Unter dieser umfassenden Perspektive, die Substanz und Struktur einschließt, nennen wir die geistigen Gestaltungen "Bewußtseinsformationen".


Auf den ersten Blick mag es vielleicht befremden, Substanz und Geist derart miteinander verquickt zu sehen; stellt man sich doch gewöhnlich unter "Substanz" die grobstoffliche Materie vor, welche geradezu als Antipode alles Geistigen angesehen wird. Tatsächlich aber ist der Begriff der Substanz viel umfassender. Ihm entspricht etwa das, was wir im vorigen Kapitel "Nährstoff" nannten; und wir sahen bereits, daß als Nährstoff jede Gestaltung ergriffen werden kann. So kann beispielsweise eine Empfindung als Nährstoff dienen und zur Wahrnehmung gestaltet werden, die Wahrnehmung wiederum kann den Nährstoff für einen Gedanken abgeben usw. Jede Gestaltung kann als Nährstoff für einen Gestaltungsprozeß höherer Ordnung dienen und erfüllt dann in diesem die Funktion der Substanz. Demnach ist also Substanz kein bestimmter Stoff, sondern eine funktionelle Größe.

Durch meditative Analyse läßt sich, wie wir gesehen haben, der mehrfache Gestaltungsprozeß stufenweise zurückverfolgen. Dabei zeigt sich klar, daß Wesen und Erscheinung eines Dinges bzw. Substanz und Struktur nicht eindeutig zu trennen sind. Es kommt auf die jeweilige Ebene der Erfahrung an, von der aus diese Unterteilung getroffen wird. Die elementare Bewußtseinsformation "Geist- Körperlichkeit", welche unmittelbar vor der völligen Enthaftung erlebt wird, stellt nun allerdings in dieser Hinsicht einen Sonderfall dar. Einerseits taucht hier als Substanz die pure Körperlichkeit, also die Materie auf, deren Struktur sich andererseits aber als rein geistige Gestaltung erweist. Mit anderen Worten: was hier als Materie erlebt wird, hängt einzig und allein von der geistigen Struktur ab.

Es ist durchaus möglich, daß bei entsprechender Differenziertheit derselben die Materie nicht grobstofflich erlebt wird, sondern etwa feinkörperlich als energetische Vibration oder sogar unkörperlich als bloße Raum- oder Bewußtseins- Struktur. In diesem Fall kann man erkennen, daß Leben auch auf feinkörperlicher oder unkörperlicher Basis möglich ist- was der normale Durchschnittsbürger gewöhnlich für ein frommes Märchen hält.

Der Buddha lehrte eine ganze Hierarchie derartiger Existenzebenen in der sog. Brahmawelt. Im höchsten Brahmahimmel tritt die nahezu freie Geisteskraft mit all ihren schöpferischen Gestaltungsmöglichkeiten ins Dasein. Andererseits werden dann aber auch ohnmächtige Daseinsformen auf der Grundlage ungewöhnlich massiver Stofflichkeit vorstellbar, die dem Geist kaum irgendwelche Bewegungsfreiheit lassen. Der Grenzwert dieser Richtung wäre der Zustand starrer, toter Masse, der jedoch ebensowenig erreicht werden dürfte wie der Grenzwert der anderen Richtung, die reine Geistigkeit. Denn Geist und Körperlichkeit sind Korrelate, die sich gegenseitig bedingen und aufeinander stützen und erst in ihrer Wechselwirkung und Verwandlung ineinander die unendliche Vielfalt der Bewußtseinsformationen ins Leben rufen.


Die westliche Wissenschaft vertrat lange Zeit ein materialistisches Weltbild und lehrte, alles Wirkliche sei materiell oder zumindest an einen materiellen Träger gebunden. In neuerer Zeit entwickelte die Naturwissenschaft jedoch Apparaturen, mit denen experimentell die Struktur der Materie genauer erforscht werden konnte. Im Zuge dieser Untersuchungen wurde dann das materialistische Weltbild mehr und mehr relativiert. Heutzutage finden sich in wissenschaftlichen Abhandlungen oft Jahrtausende alte meditative Erfahrungen wieder. So schreibt beispielsweise der sowjetische Kernphysiker Mosseij Markow in seinem Aufsatz "Der Begriff der Urmaterie":

"Alles besteht aus allem. Struktur beginnt hier einen relativen Sinn anzunehmen. In einem Meer einander bedingender Bindungen existiert eine unerschöpfliche, unendliche Zahl von Situationen, in der die verschiedenartigen Kombinationen entstehen, die wir als Teilchen beobachten. Die moderne Physik gibt die Möglichkeit, den Inhalt des Begriffs ,besteht aus' völlig neu zu deuten. Das Universum als Ganzes kann sich als mikroskopisches Teilchen erweisen. Ein mikroskopisches Teilchen kann ein ganzes Universum enthalten. In einer solchen Konzeption gibt es keine Urmaterie, und die Hierarchie der unendlich vielfältigen Formen der Materie schließt in sich ab." (Ideen des exakten Wissens, Heft 11/70.)


Ein anderer bedeutender Physiker, Prot. Heisenberg, schreibt in seinem Buch "Das Naturbild der modernen Physik": "Ungewißheit in den Regungen des Geistes - das ist vielleicht eine der treffendsten Beschreibungen, die wir dem Zustand der Menschen in der heutigen Welt geben können. Die Wandlungen in den Grundlagen der modernen Naturwissenschaft können vielleicht als Symptom angesehen werden für die Verschiebungen in den Fundamenten unseres Daseins.

Wenn man versucht, sich zu den in Bewegung geratenen Fundamenten vorzutasten, so hat man den Eindruck, daß zum erstenmal im Laufe der Geschichte der Mensch nur noch sich selbst gegenübersteht. Am schärfsten tritt uns diese neue Situation in den modernen Naturwissenschaften vor Augen, in der sich herausstellt, daß wir die Bausteine der Materie, die ursprünglich als letzte objektive Realität gedacht waren, überhaupt nicht mehr ,an sich' betrachten können, daß sie sich irgendeiner objektiven Festlegung in Raum und Zeit entziehen und daß wir im Grunde immer nur unsere jeweilige Kenntnis dieser Teilchen zum Gegenstand der Wissenschaft machen können.

Die landläufige Einteilung der Welt in Subjekt und Objekt, Innenwelt und Außenwelt, Körper und Seele paßt nicht mehr und führt zu Schwierigkeiten. - Die Wissenschaft wird sich der Grenzen bewußt, die ihr dadurch gesetzt sind, daß der Zugriff der Methode ihren Gegenstand verändert und umgestaltet, daß sich die Methode also nicht mehr vom Gegenstand distanzieren kann."


Und noch ein drittes Zitat von Arthur March, Professor für theoretische Physik:


"Die Quantenmechanik führte zu der Einsicht, daß die Eigenschaften, die wir an einem Teilchen feststellen, nicht dem Teilchen selbst zukommen, sondern durch den Akt der Beobachtung zustandekommen. Eine Beobachtung bedeutet immer einen physikalischen Prozeß; und was wir beobachten, ist daher nicht das Teilchen selbst, sondern die Wirkungen, die dieser Prozeß an uns oder an den Meßapparaten hervorbringt. In einem gewissen Sinne können wir daher sagen, daß wir es selber sind, welche die beobachteten Zustände eines Atoms hervorrufen." (Das neue Denken in der modernen Physik, V, 1 ). Vom Buddhismus her gesehen beziehen sich solche Äußerungen ganz eindeutig auf jene elementare Ebene der Wirklichkeit, die wir "Geist-Körperlichkeit" nannten.

Jede objektive Untersuchung, wenn sie nur konsequent ihre gewählte Methode beibehält und bis zum Grund des Wissbaren vorstößt, erreicht einmal diese Ebene, deren formales Kriterium der Grundwiderspruch zwischen Subjekt und Objekt ist. Es kommt aber sehr darauf an, auf welchem Wege diese Ebene erreicht wird. Grundsätzlich kann dies nämlich auf zweierlei Weise geschehen: durch Analyse oder durch Synthese. Analyse heißt hier: fortschreitende Enthaftung von allen subjektiven Faktoren und Isolierung des reinen Objekts, was praktisch auf eine äußerste Reduzierung jeder Willenstätigkeit hinausläuft. Dieser Weg ist der der vipassanā.

Wir beschrieben bereits, wie eine solche Analyse prinzipiell verläuft. Während der Meditation wird zunächst einmal jede willkürliche Beeinflussung des beobachteten Objekts sorgfältig vermieden, nach und nach aber auch alle unbewußte Beeinflussung als Wille erkannt und eliminiert, bis schließlich auf der Ebene der Geist-Körperlichkeit das reine Objekt, die pure Substanz sozusagen, als geistige Gestaltung bewußt wird.


Ganz anders in der Synthese: Hier ist das Objekt dem Willen des Beobachters unterworfen, sei es in Form ausgeklügelter Experimente oder durch intellektuelle Bearbeitung des Gegenstandes oder auch nur durch konzentrative Betrachtung (samatha). Diesen Weg der Synthese beschreitet die Wissenschaft. Uns soll hier nicht irritieren, daß die Wissenschaft selbst ihr Vorgehen für eine analytische Arbeitsweise hält; in Bezug auf die Bewußtseinsvorgänge jedenfalls betreibt sie ausschließlich Synthese, indem sie Gestaltungen immer höherer Ordnung schafft.

Der Erfolg dieser Methode ist, daß die materielle Substanz sich mehr und mehr verflüchtigt und unter einem strukturellen Überbau von Hypothesen, Modellvorstellungen und Theorien fast völlig verschwindet. Schließlich gipfelt die Untersuchung, wenn konsequent zu Ende geführt, im Grundwiderspruch von Subjekt und Objekt. Dieser entspricht nun zwar der Bewußtseinsformation Geist-Körperlichkeit, aber eben nur im Sinne einer formalen Beschreibung; der eigentliche Gegenstand der Untersuchung existiert hier nur noch in der abstrakten, entleerten Form des bloßen Begriffs.


Wenn die Wissenschaft die Realität beschreiben will, müssen ihre Aussagen sich auf wirkliche oder mögliche Tatbestände beziehen. Man kann die wissenschaftlichen Theorien als geistige Gestaltungen relativ hoher Ordnung auffassen, die geistige Gestaltungen relativ niederer Ordnung beschreiben. Nehmen wir zum Beispiel die Theorie der Elementarteilchen! Diese Theorie beschreibt Objekte möglicher Erfahrung auf der Ebene der Geist-Körperlichkeit bei einem Auflösungsvermögen, das etwa der feinkörperlichen Struktur des Geistes entspricht. Damit erfaßt diese Theorie natürlich nur einen begrenzten Ausschnitt aus dem Spektrum von Erfahrungsmöglichkeiten, den diese Ebene bietet.

Die Frage ist, ob eine Theorie sämtliche überhaupt möglichen Bewußtseinszustände erfassen kann. Eine solche Theorie wäre ja selbst eine geistige Gestaltung und müßte sich daher selbst mitbeschreiben - und dies eben führt zum Widerspruch. Formal gesehen ist alles in Ordnung: der Grundwiderspruch entspricht der Ebene der Geist-Körperlichkeit und beschreibt die ganze in der geistigen Struktur angelegte Hierarchie von möglichen Bewußtseinsformationen als "Subjekt", und die sich hiervon realisierende und damit einzig wirkliche Bewußtseinsformation als "Objekt". Zugleich beschreibt sich der Grundwiderspruch in eben seiner Widersprüchlichkeit vollständig selbst. Es steckt also kein formaler Fehler in den Ergebnissen der wissenschaftlichen Arbeitsweise, sondern der Widerspruch ergibt sich als die notwendige und unvermeidliche Folge der synthetischen Untersuchungsmethode.


Wie die angeführten Zitate zeigen, ist sich die Wissenschaft ihrer Krise wohl bewußt. Der Grundwiderspruch ist für sie kein philosophisches Problem mehr, sondern ein existentielles, denn er setzt ihrer bisherigen Arbeitsweise eine absolute Grenze. Der Schiffbruch einer Methode bedeutet aber nicht notwendig das Ende aller Wissenschaft. Die Wissenschaft beginnt zu begreifen, daß ihre Methode des Zupackens, Festhaltens, kurzum der Unterwerfung des Objekts ihrer Untersuchung unter den Willen, nicht zur wirklichkeitsgemäßen Erkenntnis führen kann, sondern in der Sackgasse der Unwissenheit, im Widerspruch leerer Begriffe endet. Sie wird umdenken und eine analytische Arbeitsweise entwickeln müssen. Dies aber heißt: Nach der Quantenphysik kann nur noch vipassanā kommen.


Fassen wir kurz den ersten Teil dieses Kapitels zusammen: vipassanā führt dazu, das Wesen der Materie als Körperlichkeit unmittelbar von innen her zu erleben, während das wissenschaftliche Vorgehen zu Theorien über die Materie kommt und lediglich die möglichen Varianten ihrer E r s c h e i n u n g beschreibt. Damit geht die Wissenschaft natürlich am eigentlichen Substanzproblem völlig vorbei. Im mittleren Bereich der Gestaltungs- Hierarchie, also im normalen Alltagsbewußtsein (kama-loka) verwischen sich noch die Unterschiede zwischen Wesen und Erscheinung einer Sache, und hier leistet die Wissenschaft durchaus gute Dienste. Der Fehler, der (um das Heisenbergische Zitat zu verwenden) "durch den Zugriff der Methode" entsteht, ist hier noch vernachlässigbar klein. Er tritt jedoch um so deutlicher zutage, je mehr sich die Struktur des Geistes differenziert und sich das Spektrum der Bewußtseinsformationen ausweitet. In voller Schärfe aber zeigt er sich erst, wenn der ganze Kreis von Gestaltungen überschaubar wird.


Der erwachte Geist des Buddha durchdrang den ganzen Kreis von Bewußtseinsformationen und erkannte nicht nur das in ihm werkende Gestaltungsgesetz, sondern auch den unermüdlichen Gestalter, den Willen. Er wußte, daß alles weltliche Wissen nur begrenzten Wert hat, sich im Bereich bloßer Erscheinungen bewegt und niemals zur Erkenntnis der Wahrheit führen kann. Zu Buddhas Zeiten gab es zwar kaum eine Wissenschaft in unserem Sinne, aber Tausende von Yogis suchten auf dem Wege der Synthese, nämlich durch willentliche Konzentration auf ein Objekt, die höchste Erkenntnis und Befreiung zu erlangen. Auch der Buddha experimentierte zunächst mit konzentrativen Methoden. Sieben Jahre brauchte er, bis er die Heillosigkeit dieses Weges vollständig begriff. Seine persönliche Krise verlief wesentlich dramatischer als die leichte Verunsicherung einiger moderner Wissenschaftler: sie brachte ihm beinahe den Tod. Dann aber schlug er einen anderen Weg ein und verwirklichte in kürzester Zeit die völlige Erleuchtung und Befreiung. Dieser Weg ist vipassanā, der Weg des Nicht- Anhaftens. Es ist erstaunlich und wunderbar, da gerade in unserer Zeit die weltliche Wissenschaft die Grenzen ihrer Erkenntnismöglichkeiten offenbar gemacht hat und damit jeden denkenden Menschen auf den Weg zur Befreiung verweist.


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