BUDDHA UND SEINE JÜNGER

Anuruddha

 

Als nach Kapilavatthu, der Geburtsstadt Buddhas, die Kunde drang, daß Siddhattha, der Fürstensohn aus dem Stamme der Sakyas, ein großer Weiser und Heiliger, ein Buddha, geworden war, litt es die adeligen jungen Herrn der Sakyas nicht mehr in der Heimat. Die Begeisterung für den von Buddha gegründeten Bhikkhu-Orden war so groß, daß gleich sechs seiner Vettern, Anuruddha, Bhaddiya, Ananda, Bhagu, Kimbila und Devadatta den Entschluß faßten, Buddha um Aufnahme in seinen Orden zu bitten. Ihnen schloß sich als siebenter der fürstliche Hofbarbier Upāli an, und als sie hörten, daß sich Buddha in dem Dorf Anúpiya im Lande der Mallas aufhielt, eilten sie dorthin und traten dem Orden bei, Ananda zunächst als Laienanhänger, die übrigen als Bhikkhus. (CV VII, I). Von Ananda wird noch zu reden sein. Devadatta ist schon erwähnt. Upāli entwickelte sich zum besten Kenner der Ordenssatzung, weshalb ihm auf dem Konzil, das bald nach Buddhas Tode in Rājagaha stattfand, die Aufgabe zufiel, die Ordensregeln aufzuzählen, zu erläutern und zu begründen. So wurde er der erste Redaktor des Vinayapitaka, der Sammlung der Ordensregeln. Bhaddiya war der Erbe des Sakya-Fürsten und sollte die Regierung des Sakya-Staats übernehmen, aber er verzichtete auf diese Würde, um Bhikkhu zu werden. Bhagu und Kimbila treten weniger hervor. Der bedeutendste unter den sieben war zweifellos Anuruddha.

Wie Moggallāna und Kassapa besaß auch Anuruddha die Gabe des Hellsehens und die Fähigkeit, in der Meditation Visionen zu erleben. In einem Gespräch mit dem Baumeister Pancakanga im Jeta-Hain bei Savatthi soll er verschiedene Geistererscheinungen genau beschrieben haben, die bei bestimmten Meditationen auftreten können. (M 127)

Meist lebte Anuruddha in Wäldern, aber nicht allein, wie Kassapa, sondern in Gemeinschaft mit seinen ihm befreundeten Vettern Nandiya und Kimbila. Wir hören, daß die drei einmal im Gosinga-Wald (M 31), ein anderes Mal im östlichen Bambushain bei dem Dorf Bālakalonakāra (M 128 und ebenso MV X,4) miteinander sich in der Meditation übten. Im Gosinga-Wald besuchte sie eines Abends Buddha. Ein Waldhüter wollte ihn nicht in den Waldesteil eintreten lassen, in dem sich die drei Freunde aufhielten, denn, so sagte er, die Bhikkhus wünschten für sich zu leben und nicht gestört zu werden. Anuruddha aber hörte das Gespräch, rief dem Waldhüter zu, er solle Buddha eintreten lassen, und rief Nandiya und Kimbila herbei. Alle drei gingen Buddha entgegen, der eine nahm ihm Obergewand und Schale ab, der andere bereitete ihm einen Sitz und der dritte brachte ihm Wasser zur Fußwaschung herbei. Buddha setzte sich, wusch die Füße und sprach zu Anuruddha, der sich zu ihm gesetzt hatte: "Wie geht es euch? Kommt ihr gut aus, leidet ihr keinen Mangel?" Anuruddha erwiderte, es fehle ihnen an nichts, was sie brauchten. Auf die weitere Frage Buddhas, wie sie miteinander lebten, sagte Anuruddha:

"Herr, ich schätze mich glücklich, daß ich mit solchen Mitstrebenden vereint lebe. Ich diene diesen Ehrwürdigen offen und geheim mit liebevollen Werken, Worten und Gedanken. Meinen eigenen Willen habe ich aufgegeben und lebe ganz nach dem Willen dieser Ehrwürdigen. Verschieden sind zwar unsere Körper, aber wir haben sozusagen nur einen Willen." Nandiya und Kimbila bestätigten, was Anuruddha gesagt hatte, mit den gleichen Worten. Buddha lobte sie, und Anuruddha fuhr fort: " Wer von uns zuerst vom Speisesammeln aus dem Dorf zurückkehrt, der bereitet die Plätze und setzt Trinkwasser, Waschwasser und den Spülnapf auf. Wer zuletzt zurückkehrt, nimmt, wenn er will, von dem, was an Speise übrig bleibt, wenn nicht, wirft er den Rest auf grasfreien Boden oder in fließendes Wasser. Dann ordnet er die Sitze, räumt Trinkwasser, Waschwasser und Spülnapf weg und kehrt den Speiseplatz rein. Wer bemerkt, daß der Trinknapf oder der Wasserkrug leer ist, der füllt ihn wieder und säubert den Mistkübel. Wenn er es allein nicht kann, winkt er einen zweiten herbei, und wir kommen und helfen, ohne daß wir deswegen ein Wort sprechen. Jeden fünften Tag sitzen wir die ganze Nacht hindurch in Gesprächen über die Lehre beisammen."

Auch dies lobte Buddha und fragte weiter, wie es mit ihrer Meditation stehe. Anuruddha erwiderte, sie seien alle drei soweit fortgeschritten, daß sie die vier Stufen der Versenkung im Bereich des Gestalthaften und die vier weiteren Stufen im Bereich des Gestaltlosen nach Belieben erreichten. Nachdem Buddha sich verabschiedet hatte, fragten Nandiya und Kimbila den Anuruddha: "Haben wir dir etwa gesagt, daß wir uns dieser oder jener Stufen der Versenkung erfreuen? Wie konntest du dem Buddha berichten, wir seien bis zur höchsten Stufe gelangt?" So fragten sie, weil es für einen Bhikkhu unstatthaft ist, sich seiner inneren Fortschritte zu rühmen oder auch nur davon zu sprechen. Anuruddha aber erwiderte: "Wahrlich, nein! Ich habe es aber in euren Herzen gelesen, und weil Buddha mich danach fragte, habe ich ihm geantwortet." Anuruddha wußte es also kraft seiner übernormalen Fähigkeit, das Denken und Fühlen anderer Menschen zu durchschauen, und er war außerdem berechtigt, davon zu reden, weil er dem Meister antworten mußte. (M 31)


Geisterseher

 

Buddhas Besuch bei den drei Freunden im östlichen Bambushain bei dem Dorfe Bālakalonakāra ("dem Dorf der jungen Salzsieder") wird in M 128 und ebenso in MV X, 4 mit den gleichen Worten erzählt wie der Besuch im Gosinga-Walde; in M 128 wird aber weiter berichtet, die drei Bhikkhus hätten dort in der Meditation die Anfänge von Visionen erlebt: sie hätten einen Lichtschein wahrgenommen und Gestalten seien ihnen erschienen, aber der Lichtschein sei immer bald wieder verschwunden und die Gestalten seien nicht deutlich zu erkennen gewesen. Das hätten sie Buddha berichtet, und dieser habe ihnen gesagt, daß es ihm früher ebenso ergangen sei. Er habe dann stets nach der Ursache des Verschwindens und der Unklarheit der Erscheinungen geforscht und sie in seinem eigenen Gemütszustand entdeckt. Nach langen Übungen sei es ihm endlich gelungen, den Lichtschein festzuhalten und die Gestalten scharf zu sehen.


Telepathie und Gedankenlesen

 

Als Anuruddha sich einmal im Lande der Ceti (nordwestlich von Benares) aufhielt, zog er sich in den dortigen östlichen Bambushain zur Meditation zurück und dachte darüber nach, daß sich die Buddha-Lehre nicht für jeden eigne, sondern nur für solche Menschen, die bescheiden und genügsam sind, die gern allein sind, für Willensstarke, für Besinnliche, für solche, die sich konzentrieren können und weiser Einsicht zugänglich sind. Diese Gedanken sandte er telepathisch Buddha, der weitab im Lande der Bhagger, im dortigen Gazellenhain am Krokodilsberg weilte.

Darauf hatte er eine Vision: er sah Buddha leiblich vor sich und hörte ihn sagen, er solle noch eine achte Eigenschaft hinzufügen: die Lehre eigne sich nur für solche Menschen, die nicht weltlich gesinnt sind; wenn Anuruddha über diese acht Eigenschaften nachdenke, könne er die Versenkungen bis zur vierten Stufe erreichen; er möge während der kommenden Regenzeit im Lande der Ceti bleiben.

Um dieselbe Zeit saß Buddha im Lande der Bhagger, umgeben von einer Schar Bhikkhus, und hielt diesen einen Vortrag über dasselbe Thema, über das Anuruddha meditierte. Die Gedankenübertragung von Buddha auf Anuruddha wirkte auf diesen so stark, daß er im Laufe der nun folgenden Regenzeit im Lande der Ceti eifrig meditierend zum Nirvana gelangte.

Zur Erinnerung an dieses Ereignis sang Anuruddha folgendes Lied:

 

"Als die Gedanken in mir schaute
Der höchste Meister in der Welt,
Hat er in geisterzeugtem Körper
Sich durch Magie mir zugesellt.
 
Und wie ich weiter nachsann, wies
Der Meister mich zu weiter'n Höhen;
Er lehrte mich, der hohe Meister,
Das Übersinnliche verstehen.
 
Verstanden hab' ich, was er sagte,
Die Lehre, die mir Freude macht.
Drei Wissen hab' ich mir errungen.
Des Meisters Weisung ist vollbracht."

(A VIII, 30; Thg 901-903)

Anuruddha war nach der Überlieferung zugegen, als Buddha starb oder, buddhistisch gesprochen, in das Parinirvana einging. Der Bericht hierüber in D.16, 6 zeigt deutliche Spuren späterer Überarbeitung. Als der Körper Buddhas regungslos dalag, stellte Ananda einfach fest: "Der Erhabene hat das Parinirvana erreicht." Darauf soll Anuruddha erwidert haben, das sei nicht richtig, vielmehr befinde sich der Erhabene auf der letzten Stufe der abstrakten Jhānas, wo Wahrnehmung und Empfindung aufgehört haben. Der Bericht behauptet weiter, Buddha habe im Sterben sich zuerst in die Jhānas begeben, und zwar in die von ihm gelehrten vier Stufen und im Anschluß daran auch in die von Sāriputta aus dem Yoga übernommenen abstrakten Jhānas; dann habe er sich wieder zurückbegeben bis zur ersten Stufe, von dieser aus wieder aufwärts bis zur vierten, und von dieser aus sei er zum Parinirvana gelangt.

Wenn man sich erinnert, daß Buddha in M 26 ausdrücklich erklärt hat, die abstrakten Jhānas, die er bei seinen brahmanischen Lehrern gelernt hatte, befriedigten ihn nicht, weil sie nicht zum Nirvana führten, dann kann man als sicher annehmen, daß Buddha beim Sterben nicht in diese von ihm verworfenen Jhānas eingetreten sein kann; und wenn Anuruddha die ihm zugeschriebene Fähigkeit hatte, den Geisteszustand eines andern zu durchschauen, dann kann er nicht gesagt haben, Buddha befinde sich auf der letzten Stufe der abstrakten Jhānas. Die Darstellung des Vorgangs in D XVI, 6 muß aus einer Zeit stammen, wo die Bhikkhus die Jhānas nicht mehr selbst erleben konnten, denn sonst hätten sie gewußt, daß die abstrakten Jhānas sich nicht an die vierte Stufe anschließen lassen.

Nach dem Hinscheiden Buddhas soll Anuruddha wieder als Geisterseher geglänzt haben. Er sah, so heißt es, die Geister der Luft und die Geister der Erde, wie sie um Buddha trauerten, und daneben andere, von Leidenschaft freie Geister, die ohne zu trauern sagten: "Alles Gewordene ist unbeständig; wie wäre es auch anders möglich!" Am Tage danach schickte Anuruddha seinen Mitbruder Ananda nach der Stadt Kusinara, um den Ratsherren der Stadt, den Mallas, den Tod Buddhas anzuzeigen. Die Mallas kamen darauf herbei, um den Leichnam fortzutragen, aber sie konnten ihn nicht aufheben. Auf ihre Frage erklärte ihnen Anuruddha die Ursache dieser sonderbaren Erscheinung: die Götter hätten einen andern Plan für die Gedächtnisfeier als die Mallas; sie wünschten, daß der Leichnam in feierlicher Prozession von Norden her in die Mitte der Stadt und von dort durch das Osttor nach einem bestimmten Heiligtum in der Nähe der Stadt getragen und dort eingeäschert werden solle. Nach diesem Plan wurde dann auch verfahren.

Die wenigen, zum Teil legendarisch ausgeschmückten Begebenheiten, die uns aus dem Leben Anuruddhas überliefert worden sind, zeigen ihn als einen Visionär, einen Meister der Meditation mit der Gabe des Hellsehens und des Gedankenlesens.


  Oben zeilen.gif (1054 bytes)


width="40" height="40">