Vipassanā Meditation

Neunundzwanzigster Abend - Buddhistische Wege

 

Buddha lehrte nicht Buddhismus. Er lehrte den Dharma, das Gesetz. Er lehrte nicht die Satzungen eines Glaubens oder eines Dogmas oder einer Lehre, die blind akzeptiert werden müssen. Durch seine eigene Erleuchtungserfahrung zeigte er für jeden von uns den Weg, damit wir die Wahrheit in uns selbst finden können. Während der fünfundvierzig Jahre, die er lehrte, gebrauchte er viele verschiedene Worte und Vorstellungen, um auf die Wahrheit hinzuweisen. Die Worte oder Vorstellungen sind nicht die Wahrheit selbst; sie deuten lediglich auf eine bestimmte Art der Erfahrung hin. Zu Buddhas Zeiten verwechselten die Menschen, durch die Kraft seiner Weisheit und Erfahrenheit, im allgemeinen nicht die Worte mit der Erfahrung. Sie hörten, was der Buddha zu sagen hatte, blickten nach innen und erfuhren die Wahrheit in ihrem eigenen Geist und Körper.

 

Im Laufe der Zeit begannen die Menschen immer weniger zu üben und verwechselten die Worte mit der Erfahrung. Verschiedene Richtungen entstanden, die über Ansichten diskutierten. Es ist so, als ob man bei dem Versuch, das Licht einer Vollmondnacht zu erklären, auf den Mond zeigt. Den Finger statt des Mondes zu betrachten bedeutet, das Zeigen nicht zu verstehen. Wir sollten nicht den Finger mit dem Mond verwechseln und nicht die Worte, die auf die Wahrheit deuten, für die Erfahrung selber halten.

 

Als der Dharma nach China kam, entwickelte er sich in eine bestimmte Richtung durch eine Verbindung der Lehren des Buddhismus und des Taoismus. Einer derjenigen, der die Entwicklung und Richtung der Ch'an (später Zen)-Schule am meisten beeinflußte, war der sechste chinesische Patriarch, Wei Lang. Obwohl man ihm nachsagt, daß er des Lesens und Schreibens nicht kundig gewesen sei, war sein Geist so geläutert und durchdringend, daß er, nachdem er eine Zeile des Diamant-Sutra gehört hatte, erleuchtet war. Oft lasen ihm die Menschen Schriften vor, damit er ihnen die eigentliche Bedeutung erklären konnte.

 

Er gab eine sehr klare Beschreibung davon, was die verschiedenen buddhistischen Lehren oder Fahrzeuge wirklich bedeuten.

 

Buddha Predigte die Lehre von den 'Drei Fahrzeugen' und ebenso von dem 'Höchsten Fahrzeug'. Beim Versuch dies zu verstehen, solltest du deinen eigenen Geist untersuchen und ganz unabhängig von Dingen und Phänomenen handeln. Der Unterschied dieser vier Fahrzeuge existiert nicht im Dharma selbst, sondern bloß in der Leute Geist. Zu sehen, zu hören und das Sutra aufsagen, ist das Kleine Fahrzeug. Den Dharma kennen und dessen Sinn verstehen, ist das Mittlere Fahrzeug. Den Dharma in die Praxis umsetzen, ist das Große Fahrzeug. Alle Dharmas vollauf zu verstehen, sie vollkommen in sich aufgenommen zu haben, von allen Anhaftungen frei zu sein und sich im Besitz von nichts zu befinden, ist das Höchste Fahrzeug.

In allen Traditionen, ob es in Indien, in Burma, in China, in Japan, in Tibet oder Amerika ist, überall gibt es jene, die an den Worten haften, die das Sutra aufsagen. Das ist das Kleine Fahrzeug. Wenn wir die Worte Taten werden lassen und den Dharma erfahren, dann gehen wir durch die Fahrzeuge hindurch, bis wir an nichts mehr anhaften, nichts mehr besitzen und den Dharma voll und ganz leben, von Augenblick zu Augenblick. Das ist das Höchste Fahrzeug des Dharma, die Vollkommenheit der Übung. Dies ist in keiner Lehre enthalten, es ist in der Entwicklung des Verstehens von jedem Wesen enthalten.

 

Als sich historisch verschiedene Ausdrucksformen des Dharma entwickelten, haben große Lehrer viele gute Methoden benutzt, um die Menschen anzuleiten, in ihren eigenen Geist hinein zuschauen, den Dharma in sich selbst zu erfahren. Einige der alten, bekannten Worte, die als Vorstellungen eine große Fessel geworden waren, wurden auf neue Art verwendet, um den Menschen zu ermöglichen, die Realität des Augenblicks zu erkennen.

 

Zum Beispiel hilft das Verstehen der verschiedenartigen Verwendung des Wortes "Buddha" sehr bei dem Begreifen der einzelnen Traditionen, die das Wort unterschiedlich verwenden. Erstens bezieht sich Buddha auf die historische Person, Siddhartha Gotama, die voll erleuchtet wurde. Aber auch der Geist frei von Bef1eckungen ist damit gemeint, Buddha-Geist, Buddha-Natur. Der Geist, der frei ist von Gier, Haß und Unwissenheit.

 

Es gab bis dreihundert Jahre nach dem Tode Buddhas keine Buddha-Statuen. Die Übung der Menschen war das Bild Buddhas, es bestand keine Notwendigkeit, es zu veräußerlichen. Aber nach einiger Zeit, nachdem die Übung verloren ging, begannen die Menschen den Buddha außerhalb ihres eigenen Geistes zu stellen, zurück in Zeit und Raum. Nachdem das Konzept veräußerlicht war und Bilder gemacht wurden, begannen große Lehrer, die andere Bedeutung Buddhas wieder zu unterstreichen. Es gibt ein Wort: "Wenn du einen Buddha siehst, töte ihn." Ein sehr erschreckender Ausspruch für Menschen, die vor einem Bild Weihrauch verbrennen und beten. Wenn Sie im Geiste eine Vorstellung von einem Buddha außerhalb von Ihnen selbst haben, töten Sie diese, lassen Sie sie los. Es gab einen intensiven Dialog darüber, wie man die eigene Buddha-Natur verwirklicht, während eines Lebens Buddha wird und in den eigenen Buddha-Geist blickt; es kam neues Leben in die Übungen.

 

Gotama Buddha erinnerte die Menschen wiederholt daran, daß die Erfahrung der Wahrheit aus dem eigenen Geist kommt. Es gibt die Geschichte über einen Mönch, der sehr eingenommen war von der physischen Gegenwart des Buddha, über den man sagt, daß er sowohl die körperliche als auch die geistige Vollkommenheit darstellte, daß er bei jeder Gelegenheit sich dicht neben ihn setzte und seine physischen Formen betrachtete. Nach einiger Zeit wies Buddha ihn zurecht. Er sagte dem Mönch, er könne diese Körperform hundert Jahre lang betrachten und werde doch nicht den Buddha sehen. Wer den Dharma sieht, sieht auch den Buddha. Der Buddha ist innen. Es ist die Erfahrung der Wahrheit. Wir müssen immer im gegenwärtigen Moment sein, in der Erfahrung des Jetzt.

 

Wieder Wei Lang:

 

Wir sollten innerhalb der Geistesessenz nach Buddhaschaft trachten und sollten nicht außerhalb unser danach suchen. Derjenige, der von seiner Geistesessenz nichts weiß, ist ein gewöhnlicher Mensch. Der, welcher in seiner Geistesessenz erleuchtet ist, ist ein Buddha.

Nicht Buddha als historische Person, sondern Buddha als Freiheit von Befleckungen, als Reinheit des Geistes. Das ist der Buddha, zu dem wir alle werden müssen.

 

Eine andere Vorstellung, die oft mißverstanden wird aufgrund unterschiedlicher Traditionen, ist die Vorstellung des Bodhisattva. Das Wort "Bodhisattva" hat zwei verschiedene Bedeutungen. In einem ganz bestimmten Sinne bezieht es sich auf ein Wesen, das gelobt hat, die höchste Erleuchtung zu erringen, wie es Siddhartha Gotama in seiner langen Entwicklung zur Vollkommenheit tat. Es gibt eine zweite Bedeutung von Bodhisattva, und diese bezieht sich auf alle Kräfte der Reinheit im Geiste. In der Mahayana- und der tibetischen Tradition gibt es ein ganzes Pantheon von Bodhisattvas, Sinnbilder der Kräfte in unserem Geiste. Manjusri ist der Bodhisattva der Weisheit. Avalokiteshvara ist der Bodhisattva des Mitgefühls: Erscheinungen der Kräfte der Reinheit im Geiste. In jedem Augenblick der Weisheit werden wir zu Manjusri, in jedem Augenblick des Mitfühlens werden wir Avalokiteshvara. Wenn wir Bodhisattva so begreifen, erweitert sich die Bedeutung der Bodhisattva-Gelübde.

 

In dem einen Sinne ist es das Gelübde, mit dem man sich der höchsten Erleuchtung eines Buddha verschreibt. Über Siddhartha Gotama wird gesagt, daß er während einer seiner Leben in der Gegenwart eines anderen Buddha die Möglichkeit hatte, erleuchtet zu werden; aber er war so inspiriert durch die Gegenwart des Buddha und so durchdrungen von Mitgefühl für die Leiden aller Wesen, daß er gelobte, seine eigene Erleuchtung hinauszuschieben, um alle Eigenschaften der Buddhaschaft zur Vollkommenheit zu bringen. Obwohl die Geistesfreiheit eines erleuchteten Wesens und eines Buddhas dieselbe ist, ist die Kraft und Tiefe der Weisheit und des Mitgefühl eines Buddhas größer, weil er eine unmeßbar längere Evolution hinter sich hat. Eine andere Bedeutung des Bodhisattva-Gelübdes ist sehr klar von Wei Lang beschrieben worden:

 

Wir geloben, unzählige lebende Wesen zu befreien. Was bedeutet dies? Dies will nicht heißen, daß ich, Wei Lang, sie nun befreien werde. Und wer sind diese lebenden Wesen in unserem Geiste? Sie sind der befleckte Geist, der trügerische Geist, der üble Geist und alle diese Arten von Geisteszuständen - alle diese sind lebende Wesen. Sie alle haben sich durch ihre eigene Geistesessenz zu befreien.

Das Gelübde, alle lebenden Wesen zu befreien, kann als ein Erlöser aller Wesen in uns verstanden werden; wir befreien den zornigen Geist und den unwissenden Geist und den gierigen Geist und den lustvollen Geist. Alle diese Zustände sind Wesen, die aufsteigen und vergehen. Und wir geloben, alle diese Wesen zu erlösen und diesen geistigen Vorgang von allen Befleckungen und Unreinheiten zu befreien.

 

Ein anderer traditioneller Unterschied der verschiedenen Richtungen hängt mit der Vorstellung von Nirvana und Samsara zusammen. Eine Schule ist der Meinung, daß Nirvana von dem geistig-körperlichen Vorgang getrennt ist; und eine andere hält Nirvana und Samsara für eins. Wie vertragen sich diese beiden sich scheinbar widersprechenden Darlegungen miteinander? Es gibt einen Weg, dies zu verstehen: Stellen Sie sich einen Hurrikan vor, einen sehr heftigen Wind, der sich mit hoher Geschwindigkeit dreht. Im Zentrum dieses Sturmes mit hoher Windstärke gibt es eine Zone der Ruhe und Stille, das Auge des Hurrikans. Aus einer Perspektive ist das Auge des Hurrikans sehr verschieden von den Winden. Alles ist still, ruhig, völlig anders als der Wirbelwind, der sich um das Auge dreht. Aus einer anderen Perspektive können wir sehen, daß beide, der Sturm und das Auge, Teile einer Einheit sind und als ein Ganzes beschrieben werden können. In demselben Sinne sind Samsara und Nirvana aus einer Perspektive sehr verschieden voneinander. Eines ist der fortwährende Vorgang der Veränderung und das andere ist Stille und Frieden. Aus einer anderen Perspektive bilden sie zusammen eine Einheit und sind in diesem Sinne eins. In der Erfahrung des Dharma werden die Worte klar. Solange wir noch auf der theoretischen Vorstellungsebene bleiben, scheinen die Worte verschiedener Richtungen auf verschiedene Wahrheiten zu deuten. In Wirklichkeit sind sie verschiedene Finger, die alle auf denselben Mond zeigen.

 

Es gibt ein kraftvolles Aufzeigen der Wahrheit in einer Beschreibung des Geistes in einem hohen tibetischen, tantrischen Text. Versuchen Sie die Worte zu erfahren, anstatt darüber nachzudenken:

 

In der Tat gibt es keine Zweiheit; es ist irrig, von einer Vielheit auszugehen. Ehe diese Zweiheit nicht überwunden und Eins-Sein verwirklicht wird, kann die Erleuchtung nicht erreicht werden. Die Gesamtheit von Samsara und Nirvana, die beide nicht voneinander zu trennen sind, machen unseren Geist aus. Der Mensch wandert in Samsara umher, weil er sich an weltlichen Vorstellungen orientiert; es steht ihm frei, diese anzunehmen oder zurückzuweisen. Daher kann nur eine Dharma-Praxis, die sich von jeglicher Anhaftung losgesagt hat, den ganzen Gehalt dieser Lehren erfassen.

Wenn es auch Einen Geist gibt, so hat er doch keinerlei Existenz.

Wenn man nach der eigentlichen Natur seines Geistes sucht, so ist er zwar unsichtbar, aber doch ziemlich faßbar. In seinem eigentlichen Zustand ist der Geist unverhüllt und makellos; er ist nicht aus irgend etwas gewirkt als aus Leerheit, er ist klar, mit nichts angefüllt, ohne Zweiheit, durchsichtig, zeitlos, mit nichts vermischt, von nichts gehindert, ohne Färbung; er ist nicht als ein getrenntes Ding wahrzunehmen, sondern als Einheit aller Dinge, jedoch nicht aus diesen zusammengesetzt; er hat nur einen Geschmack und übersteigt jegliche Unterscheidung.

Dieser Eine Geist entstammt tatsächlich der Leerheit, und es fehlt ihm jegliche Grundlage. Der eigene Geist ist ebenso weit und leer wie der Himmel. Schaue tief in deinen eigenen Geist, damit du erkennen kannst, ob sich dies so verhält oder nicht. Objektive Erscheinungsformen, die nichts anderes sind als eine Bewegung aus ständiger Veränderung, so wie die Luft am Himmel, haben nicht die Kraft, dich zu fesseln und an sich zu ziehen. Schaue tief in deinen eigenen Geist, damit du erkennen kannst, ob sich dies so verhält oder nicht. Alle Erscheinungsformen sind nichts anderes als deine eigenen Vorstellungen; sie entstehen aus sich heraus im Geiste und lassen sich mit Spiegelbildern vergleichen. Schaue tief in deinen eigenen Geist, damit du erkennen kannst, ob sich dies so verhält oder nicht. Da alle äußeren Erscheinungsformen aus sich heraus aufsteigen und von ihrem Wesen her so freifließend wie die Wolken am Himmel sind, vergehen sie wieder an ihrem jeweiligen Orte. Schaue tief in deinen eigenen Geist, damit du erkennen kannst, ob sich dies so verhält oder nicht.

Da sich auch der Dharma nur in deinem Geiste befindet, ist nur dies ein Ort für die Meditation. Da sich auch der Dharma nur in deinem Geiste befindet, gibt es keinen anderen Platz der Wahrheit für die Einhaltung eines Gelübdes. Da sich auch der Dharma nur in deinem Geiste befindet, gibt es nirgendwo sonst einen Dharma, mit dessen Hilfe Befreiung erlangt werden kann.

Der eigne Geist ist durchscheinend. Da er keine Eigenschaften hat, läßt er sich mit einem wolkenlosen Himmel vergleichen. Jener Geisteszustand, der jegliche Zweiheit überschreitet, bringt die Befreiung. Wieder und wieder, schaue in deinen eigenen Geist.

Wenn der Dharma wahrhaftig verstanden wird, wird es klar, daß die Essenz aller Übungen, die zur Freiheit führen, dieselbe ist; das heißt, einen Geist zu entwickeln, der an überhaupt nichts mehr haftet. Keine Vorlieben. Keine Unterscheidungen. Kein Werten. Kein Anhaften. Kein Verurteilen. Die Übung ist dieselbe, ob sie nun durch die Worte des sechsten Patriarchen in China oder den indischen Siddhartha Gotama ausgedrückt wird.

 

Tilopa, ein großer indischer Weiser und der Gründer einer der tibetischen Linien, lehrte seinem Schüler Naropa dieselbe Ausgewogenheit des Geistes, die hier Mahamudra genannt wird.

 

Mahamudra liegt jenseits aller Worte und Symbole. Dir aber, Naropa, der du ernsthaft und voller Hingabe bist, kann dies gesagt werden: Die Leerheit bedarf keiner Stütze, Mahamudra ruht auf nichts. Du zerbrichst die Fesseln und erreichst auf diese Weise die Befreiung, ohne daß du eine Anstrengung unternehmen mußt - bleibe einfach ganz gelöst und natürlich. Wenn du deinen Geist mit dem Geist beobachtest, so hebst du jegliche Unterscheidung auf und erreichst Buddhaschaft.

Weder die Wolken, die am Himmel wandern, noch die unterscheidenden Gedanken, die durch den Geist ziehen, haben Wurzeln oder ein Zuhause. Wenn du einmal den wahren Geist erkennst, so hört jegliche Unterscheidung auf.

Es bilden sich Formen und Farben im Raum, aber damit ist der Raum noch nicht schwarz oder weiß gefärbt. Alle Dinge entstehen aus dem wahren Geist heraus. Weder Tugend noch Laster können diesen Geist beflecken.

Unternimm nichts mit dem Körper, sondern entspanne dich einfach. Halte Deinen Mund verschlossen und verharre im Schweigen. Mache deinen Geist leer und denke an nichts. Laß deinen Körper zur Ruhe kommen - einem hohlen Bambusrohr vergleichbar. Wenn du nichts mehr weggibst oder aufnimmst, kannst du auch deinen Geist zur Ruhe bringen. Mahamudra ist wie der Geist, der an nichts mehr anhaftet. Wenn du auf diese Weise praktizierst, wirst du die Buddhaschaft erlangen, wenn die rechte Zeit dafür gekommen ist.

Derjenige, welcher das Begehren aufgibt und nicht an diesem oder jenem anhaftet, erkennt die wahre Bedeutung dessen, was in den Schriften steht.

Zuerst spürt ein Yogi, daß sein Geist wie ein Wasserfall herabstürzt. Im Mittellauf fließt er, wie der Ganges, langsam und sanft dahin. Am Ende ist er wie ein großer, unermeßlicher Ozean, wo das Licht von Sohn und Mutter zu einem verschmilzt.

"Derjenige, welcher das Begehren aufgibt und nicht an diesem oder jenem anhaftet, wird die wahre Bedeutung dessen erfahren, was in den Schriften steht." - "Entwickle einen Geist, der an nichts anhaftet." Das Aufgeben des Ergreifens, das Aufgeben des Anhaftens: der Weg zur Freiheit.

 

Die Tradition des Dharma, die in Japan aus der Linie von Wei Lang und anderen Patriarchen entstand, brachte sehr schöne Schriften als Ausdruck des Weges hervor, manchmal sehr humorvoll. Eine Geschichte illustriert dieselbe Wahrheit vom Nichthaften und Nichtanklammern, in einer dem Zen sehr gemäßen Weise:

 

Ein Universitätsprofessor besuchte einmal einen japanischen Meister und stellte viele Fragen über Zen. Der Meister reichte Tee, füllte die Tasse des Gastes - und fuhr dann fort einzuschenken. Der Professor beobachtete das Überfließen und bemerkte, daß die Tasse voll und kein Platz mehr für Tee da sei. "Genau wie diese Tasse", antwortete der Meister, "sind Sie so voll von Ihren Ansichten und Meinungen, daß da kein Platz für neues Begreifen ist. Um die Wahrheit zu erfahren, müssen Sie erst Ihre Tasse leeren."

Wir können niemals die Wahrheit erfahren, solange noch ein Anhaften an Meinungen und Ansichten da ist. "Suche nicht die Wahrheit. Höre nur auf, Meinungen zu haben." Wenn wir das Anhaften an unsere vorgefaßten Meinungen aufgeben, wird sich in der Stille des Geistes der ganze Dharma offenbaren. Jeder von uns muß seine Tasse leeren, seinen Geist von Anhaften an Ansichten und Glauben frei machen.

 

Es ist so viel Schönheit und Klarheit in den unterschiedlichen Arten, wie sich der Dharma darstellt. Wir haben Glück, daß wir nicht in einer Kultur aufgewachsen sind, die durch eine bestimmte Weise bedingt ist, soweit wir offen genug bleiben, sie alle zu hören und zu würdigen. Sie weisen alle auf dieselbe Wahrheit hin, auf die Erfahrung des Dharma in uns.

 

Der Buddha gab den Rat: "Glaube nicht einfach an etwas, weil es dir gesagt worden ist oder weil es herkömmlich ist oder weil du selbst es dir so vorstellst. Glaube nicht nur aus Respekt vor deinem Lehrer an das, was er dir sagt. Welchen Weg du auch immer gehst, wenn du ihn gründlich untersuchst und feststellst, daß er zum Wohle und Glück aller Wesen führt, dann folge ihm wie der Mond dem Weg der Sterne."

 

 

 

Es verwirrt mich, daß ich keine Meinungen haben soll. Ich meine, da draußen in der Welt muß man sich so oft entscheiden...

Machen Sie von der Ebene der Unterscheidungen und Neigungen Gebrauch, wenn es angebracht ist, aber bedenken Sie dabei, daß es die Vorstellungsebene des Geistes ist, nicht die Ebene der absoluten Wahrheit. Benutzen Sie den Gedankenvorgang, ohne daran zu haften. Wie es in der Bhagavad-Gita erklärt wird, handeln Sie ohne Anhaften an die Früchte der Taten. Auf die gleiche Art kann unser Geist frei vom Anhangen an Unterscheidungen und Neigungen sein, und doch können wir sie einsetzen, wenn sie im Umgang mit der Welt notwendig sind.

 

 

Wie ist es mit Yoga, Tai Chi, Töpfern, Weben oder dergleichen als Teil der geistigen Übung?

Alles wird möglich, wenn man es mit Bewußtheit macht, mit Klarheit, ohne Anhaften, ohne Ergreifen ; die ganze Welt, alle 10 000 Freuden und 10 000 Leiden sind da, um erfahren zu werden. Die Tätigkeit selbst ist kein Maßstab für Tiefe oder Oberflächlichkeit. Der Maßstab ist der Zustand des Geistes bei der Tätigkeit. Ein Tai Chi-Meister kann in völliger Übereinstimmung mit dem Dharma sein, bei völliger Gestilltheit des Geistes. Eine andere Person kann genau dieselben Übungen mit Verspanntheit und Streben machen. Es gibt so viele schöne Beispiele über alle Arten von Tätigkeiten, die als Ausdruck der Vollkommenheit des Geistes dienen. Viele Dinge werden möglich, wenn der Geist frei ist.

 

 

Es gibt eine Vorstellung, daß man auf dem Wege erst durch Hinayana und dann Mahayana und dann Vajrayana hindurchgeht, von einem Fahrzeug zum anderen, um bei jedem andere Erfahrungen zu machen.

In dem Sinne, wie Sie meinen, sind Hinayana, Mahayana und Vajrayapa Stufen auf einem Wege zur Erkenntnis. Welchen Weg Sie auch gehen, diese Stufen werden da sein. Ob Sie einer burmesischen, japanischen oder tibetischen Richtung folgen, in jeder werden Sie durch Hinayana-, Mahayana- und Vajrayanastufen gehen müssen. Verwirrung tritt auf, weil diese Begriffe sich auch auf die verschiedenen historischen Traditionen beziehen. Die Leute verwechseln die Stufen auf dem Wege mit den verschiedenen historischen und kulturellen Ausdrucksformen des Dharma. Aus diesem Grunde sind diese Vorstellungen vielleicht nicht besonders hilfreich. Es gibt viele Stufen auf dem Wege. Sie müssen erfahren werden. Sie mit Namen zu belegen, ist nur äußerlich und bringt möglicherweise Mißverständnisse. Es gibt nur das, was ist, die Entfaltung des Dharma in uns selbst. Wir gehen durch sehr viele Erfahrungen hindurch. Die Erfahrung, nicht die Vorstellungen und Namen darüber, ist von größter Wichtigkeit.

 

 

Es gibt verschiedene Traditionen der Meditation in verschiedenen Ländern. Wären auch sie nur andere Weisen des Fortschrittes auf dem Wege?

Achtsamkeit kann mit jedem Objekt entwickelt werden. sie können Achtsamkeit auf Gedanken, auf den Körper, auf äußerliche Objekte, auf innere Objekte, auf sie alle oder auf eine Kombination davon entwickeln. Die verschiedenen Techniken und Methoden sind verschiedene Arten der Entwicklung der Achtsamkeit. Die Bewußtheit ist die Essenz aller Übungen, das Gleichgewicht des Geistes, aus dem die Erleuchtung kommt. Alle Dinge sind vergänglich, und Einsicht kann mit jedwedem Objekt entwickelt werden. Sie können die Erleuchtung mitten in einem Gedanken, mitten in einem Schmerz, während Sie essen oder gehen, zu jeder Zeit erfahren, da sie aus dem vollkommenen Gleichgewicht des Geistes kommt und nicht dadurch, daß Sie sich an ein bestimmtes Objekt halten.

 

 

Manche Lehrer sprechen von den Gefahren der psychischen Kräfte bei geistigen Übungen. Was bedeutet das?

Die Macht des Geistes kann entwickelt werden. Sie ist nicht Weisheit. Macht und Weisheit sind zwei sehr verschiedene Dinge. Es kann gefährlich sein, diese Kräfte zu entwickeln, bevor man eine hohe Stufe der Erleuchtung erreicht hat, weil sie unter Umständen nur die Vorstellung des Selbst, des Ego verstärken und manipulativ verwendet werden können. Macht kann sehr heilsam eingesetzt werden, wenn man eine feste Grundlage in Sittlichkeit und Verstehen hat. Aber es ist nicht notwendig, diese Kräfte zu entwickeln. Es gibt viele erleuchtete Wesen ohne psychische Kräfte, und es gibt viele Wesen mit diesen Kräften, die nicht erleuchtet sind. Bei manchen Menschen vereinen sich Weisheit und Macht.

 

 

Im Dhammapada spricht Buddha oft von dem Zustand der Erreichung der Arahatschaft. Bezieht sich das auf die Erfahrung der Erleuchtung?

Ja, es bezieht sich auf die völlige Vernichtung von Gier, Haß und Unwissenheit im Geiste, die durch die Nirvana-Erfahrung geschieht. Die erste Erfahrung des Nirvana, der erste Schimmer der absoluten Wahrheit entfernt einige der Fesseln aus dem Geiste; einige bleiben. Und während der Pfad weiter beschritten wird, werden weitere Fesseln aufgelöst. Ein Arahat ist ein Wesen, aus dessen Geist alle Fesseln verschwunden sind. Auf die gleiche Weise bedeutet die Idee der Buddhaschaft in diesem Leben Freiheit von Gier, Haß und Unwissenheit. In der Erfahrung der Wahrheit wird die Einheit des Dharma verstanden. Entwickeln Sie einen Geist, der an nichts anhaftet. Dies ist die Essenz aller Lehren. Es wird ganz einfach, wenn man übt.

 

 

Was braucht man, um tiefe Erfahrungen der Einsicht zu entwickeln? Muß es etwas Besonderes sein?

Nur eins ist notwendig: sich dessen bewußt zu sein, was im Augenblick geschieht. Wenn wir irgendeine Vorstellung davon haben, was geschehen sollte, dann erfahren wir nicht voll und ganz den Augenblick. Die Übung ist, achtsam auf all die wechselnden Zustände des Geistes und Körpers zu sein, ohne anzuhaften, ohne zu werten und ohne sich mit ihnen zu identifizieren. Das ist der Weg vom Anfang bis zum Ende. Dann entfaltet er sich von selbst; es gibt nichts, das wir tun müssen, damit etwas geschieht. Die Leute glauben nicht, wie einfach es ist. Oft ist das Bedürfnis da, es zu komplizieren und zu glauben, daß wir einige phantastische Geisteszustände erleben müßten. Wir sollten uns eher sehr aufmerksam still verhalten und das Fließen werden.

 

 

Ich dachte, daß einige Wege das Dienen gegenüber anderen Menschen mehr betonen als die eigene Befreiung zuerst.

Alle Pfade drehen sich darum, daß man die illusorische Natur des Selbst erkennt, der Selbstsucht ein Ende setzt. Der natürliche und organische Ausdruck des Dharma ist Liebe und Mitgefühl, anderen zu helfen und für sie zu sorgen. Dies hat nichts mit dem Fahrzeug oder dem Pfad oder dem Gelübde zu tun; es ist der natürliche Ausdruck der Weisheit. Wenn wir das Anhaften an die Vorstellung aufgeben, daß dies "ich" bin und das "der Andere" ist, beginnen wir die Einheit aller Wesen zu erfahren, und aus diesem Verständnis kommen Liebe und Dienen.

 

 

Wenn wir mit der Übung weiterkommen, erübrigt sich dann die Frage nach den verschiedenen Wegen?

Ein Freund von mir schrieb ein Gedicht, das mit diesen Zeilen endet:

 

Größeres Fahrzeug, kleineres Fahrzeug.
Unwichtig!
Alle Fahrzeuge werden abgeschleppt
Auf Kosten des Eigentümers.

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