SUTTA-NIPĀTA, Lehr-Dichtungen

1. Geleitwort

 

Dem deutschen Leser wird hier in neuer Fassung eine Vers-Sammlung geboten, in der sich einige der ältesten Bestandteile des buddhistischen Schrifttums finden. Dieses Buch kommt somit aus einer räumlich-zeitlichen Ferne, von der man meist nur literarisch, historisch oder psychologisch Interessantes erwartet, das diese Verse und der ihnen beigefügte Kommentar auch tatsächlich bieten. Doch neben dem Liebhaber und Erforscher indischen Altertums hofft dieses Buch auch solche Leser zu finden, die hinter der räumlich-zeitlichen Ferne die innere Nähe seiner Gedankenwelt empfinden, sie zunehmend deutlicher sehen und schließlich von ihr ergriffen werden als von einer Botschaft, die sie zu tiefst persönlich angeht.

 

Das Sutta-Nipāta ist, wie der dieser Übersetzung gegebene Untertitel sagt, eine Sammlung von Lehrdichtungen. Diese Lehrdichtungen aber sind von besonderer Art: sie zeigen die große Heilslehre des Buddha nicht in abstrakt-theoretischer Form, sondern an dem wiederholt und eindringlich gezeichneten Bild des Menschen, der diese Lehre in sich selber verkörpert, sie durch sein eigenes Leben darstellt. Hierin eben liegt einer der Gegenwartswerte dieses Buches, daß es so nachdrüdklich vom Menschen spricht. Von ihm, seiner Wurde und seinen Möglichkeiten zu künden, ist wieder nötig geworden in einer Zeit, in welcher Tat, Wort und Gedanke so oft dem Un-Menschlichen dienen, sowie dem »Sachlichen« und »Neben-sächlichen«; in einer Zeit, in der der Mensch so viel von seiner Freiheit an seine Institutionen ausgeliefert hat und so viele seiner inneren Möglichkeiten an den Frondienst um Nichtiges.

 

Wir können sagen, daß dieses vorliegende Buch bei all der Mannigfaltigkeit seines Inhalts nur hiervon handelt: vom Menschen und seiner Freiheit. Wie alle großen Weisheits-Bücher des Ostens gründet es sich auf die Einsicht, daß die Kettenglieder, aus denen der Mensch seine Fesseln schmiedet, ebenso wie die Bausteine seiner Freiheit und Größe in ihm selber liegen. Von den Elementen der Bindung und der Freiheit des Menschen handelt dieses Buch: von "Ausgeburten der Beklemmung und Verstrickung" (Vers 15-16) auf der einen Seite und andererseits von jenen Eigenschaften, die "dem Gesetz gemäß, für ihn, der die Erleuchtung wünscht" (Vers 963). Am Ende dieses vom Buddha gewiesenen Weges der Läuterung und Befreiung steht die Idealgestalt des Hohen Menschen (mahāpurisa), des Heiligen, heil Gewordenen.

 

Das Bild des Hohen Menschen erscheint hier allerdings vorwiegend im Gewand des Mönchs, und zwar in seiner entschiedensten Lebensform: als der Muni, d.i. der "stille Denker", der schweigsame Heilige, der schon das religiöse Menschen-Ideal des vor-buddhistischen Indiens war. Sein tief eindrucksvolles Charakterbild, das an die gewaltigen Ausmaße und die strengen, kühn vereinfachenden Formen archaischer Plastik erinnert, steht im Vordergrund der ältesten Teile des Sutta-Nipāta und gibt dem ganzen Buch sein Gepräge. Spricht man vom Geist des Sutta-Nipāta, so ist es vor allem das Muni-Ideal, an das man denken wird.

 

Der Muni ist der Wortbedeutung nach "der Schweiger". Die nichtbuddhistischen Asketen, die diese Bezeichnung trugen, hatten zumeist das völlige Schweigegelübde abgelegt. Doch dies war nicht üblich im Mönchsorden des Buddha, dem auch in dieser Hinsicht jene "zwei ganz hohen Dinge: Maß und Mitte" (Nietzsche) eignen. Der buddhistische Muni war wortkarg, doch nicht stumm; auf das Notwendige und Sinnvolle beschränkte sich seine Rede. Sein "Schweigen" aber war nicht nur eines im Wort, es war auch ein Stillesein des Körpers und des Geistes. Im Gebiet des Körpers war es die Gemessenheit und Beherrschtheit seiner Bewegungen, die Ungeschäftigkeit seines Lebens, die Anspruchslosigkeit, zu der er seinen Körper erzogen hatte. Vor allem aber war seine Art des "Schweigens" ein Stillesein des Geistes: keine Leidenschaften und Wünsche, keine Zweifel und unruhigen Grübeleien erheben mehr ihre lauten Stimmen in seinem Herzen, in dem die Stille wohnt.

 

Gekleidet in diese dreifache Stille von Gedanke, Wort und Tat, geht der Muni seinen einsamen Weg: selbstgenügsam und in sich gekehrt; abhold der Geselligkeit, doch nicht der edlen Freundschaft, wenn er sie, die auf seinem steilen Pfade so seltene, trifft (s. Vers 45/46); entschlossen dem Einen zugewandt, das not tut; daher streng gegen sich selbst, doch voller Güte und Erbarmen zu allen Lebewesen. In dieser Strenge gegen sich selbst erlaubt er es nicht, daß auch nur die geringste zuerst wohl sänftigende, dann aber weich machende Gewohnheit in ihm Wurzel faßt: nicht einmal, wie im Falle Nalakas (s. Anm. 723), die Gewohnheit, den Meister zu sehen und seine Lehre zu hören. Um ihn, den Muni, weht die Luft der hohen Bergesgipfel: klar und durchscheinend, von äußerster Reinheit und Kraft, von ehrfurchtgebietender Abgeschiedenheit, - unertragbar für die Bewohner des Tals.

 

So mag es scheinen, als ob diese strenge, kompromißlose Lebensform des Muni weltenfern sei den äußeren Lebensbedingungen und der Geisteshaltung des modernen westlichen Menschen; zu fern, um in diesem vorliegenden Buch anders bewertet zu werden als ein literarisches Dokument. Doch dieses Buch wird in der Überzeugung hinausgesandt, daß die in ihm gekündete Lehre von zeitloser Gültigkeit ist und daß die Elemente des darin dargestellten hohen Menschen-Ideals von der denkbar größten Bedeutung sind in der gegenwärtigen Krise der abendländischen Kultur. Damit aber in der Entwicklung des Menschen, des Einzelnen oder der Gruppe, ein Geringeres erreicht oder auch nur erstrebt werde, ist die hohe Forderung, der Ansporn des höchsten Vorbildes notwendig. In solchem Sinne hat die Radikalität dieses Buches und seines Menschen-Ideals eine Botschaft auch für diejenigen Menschen unserer Zeit, denen eine Nachfolge in solcher Entschiedenheit nicht möglich oder auch nicht einmal wünschenswert erscheint.

 

Neben jener notwendig radikalen Lehre vom Hohen Menschen und seiner wahren Freiheit gibt unser Buch aber auch noch aus dem Reichtum der buddhistischen Lehre eine Fülle von Schönem und Wahrem, das in seinem allgemein-menschlichen Gehalt jeden tief berühren muß und jeden unmittelbar angeht. Der Charakter dieses Buches als einer offenbar sorgfältig zusammengestellten Anthologie, eines vielseitigen Vademecums, gibt ihm seinen Inhaltsreichtum. Es besitzt die für die gesamte Buddha-Lehre bezeichnende Weiträumigkeit, welche in Form der Laien-Moral oder Weltweisheit "erste Hilfe" gibt, aber andererseits auch kundige Führung zu den erhabensten Gipfeln; es gibt einfache und sichere Fußpunkte für die ersten zögernden Schritte des Wanderers auf dem steilen Wege, doch auch strenge, kompromißlose Forderung der Selbsthilfe auf den Höhen und gefährlichen Graten. Der überwiegende Eindruck dieses Buches wird aber derjenige sein, den seine Gipfelluft vermittelt: der würzige Duft der Freiheit und das Bild einer heldenhaften inneren Kraft, die über Ich und Welt gesiegt hat.

 

Für den Empfänglichen wird es ein Buch des Aufschwungs sein, das ihn strafft und stählt, ihn zur Nachfolge ruft in die Tiefe einsamer Wälder und auf die Gipfel der Bergwelt oder zu dem, was diesem in der inneren Landschaft des Geistes entspricht: die Waldstille geistiger Sammlung und Versenkung und die erhabene Berghöhe der errungenen Freiheit. Das Sutta-Nipāta gehört zu jenen großen Büchern der Weltliteratur, die, wenn man ihrem Geiste einmal nahe gekommen ist, zu ständigen Lebensbegleitern werden, die nie ihre Frische verlieren und stets etwas Neues und Hilfreiches zu sagen haben.

Island Hermitage (Insel-Einsiedelei)

NYANAPONIKA

Dodanduwa/Ceylon, 1. Mai 1949


Abkürzungen:

 

Angutt. Nik.: Anguttara-Nikāya
CNidd: Cūla-Niddesa
Dīgha-Nik.: Dīgha-Nikāya
Itivutt.: Itivuttaka
K.E.N.: Karl Eugen Neumann
K: Der Kommentar Buddhaghosas zum Sutta-Nipāta (Paramattha-jotikā)
Majjh.: Majjhima-Nikāya
MNidd: Mahā-Niddesa
MS: Manuskript
PTS: Pali Text Society (Ausgabe der ...)
Samy. Samyutta-Nikāya
Skr.: Sanskrit
Sn: Sutta-Nipāta
VisM: Visuddhi-Magga

Wie eine Mutter ihren eigenen Sohn,
Ihr einzig Kind mit ihrem Leben schützt,
So möge man zu allen Lebewesen
Entfalten ohne Schranken seinen Geist
Sutta-Nipāta, Vers 149

 

Meiner Mutter  SOFIE FENIGER

in tiefer Dankbarkeit und Verehrung

Nyanaponika


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