Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten

501. Die Erzählung von der Rohanta-Gazelle (Rohantamiga-Jataka)

„Die Herden hier eilen zurück“

 

§A. Dies erzählte der Meister, da er im Veluvana verweilte, mit Beziehung auf die Lebensaufopferung des ehrwürdigen Ananda.

§D. Diese seine Lebensaufopferung aber wird im Asiti-Nipata [1] im Cullahamsa-Jataka [Jataka 533] bei der Zähmung des Dhanapala [3] erzählt werden. —

Nachdem aber so von diesem Ehrwürdigen für den Meister das Leben aufgeopfert war, begannen die Mönche in der Lehrhalle folgende Unterhaltung: „Freund, der ehrwürdige Ananda, der nur die Schülererkenntnis erreicht hat [4], hat für den mit den zehn Kräften Ausgestatteten sein Leben aufgeopfert.“ Da kam der Meister und fragte: „Zu welchem Gespräche, ihr Mönche, habt ihr euch jetzt hier niedergelassen?“ Als sie antworteten: „Zu dem und dem“, sprach er weiter: „Nicht nur jetzt, ihr Mönche, sondern auch früher schon opferte dieser um meinetwillen sein Leben auf.“ Nach diesen Worten erzählte er folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

 

§B. Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, war Khema seine erste Gemahlin. Damals nahm der Bodhisattva im Himalaya-Gebirge im Gazellengeschlechte seine Wiedergeburt. Er war goldfarbig und von großer Schönheit. Auch sein jüngerer Bruder, die Citta-Gazelle mit Namen, war goldfarbig und auch seine jüngere Schwester, Sutana mit Namen, war von goldener Farbe. Der Bodhisattva aber wurde Rohanta genannt und war der Gazellenkönig. Im Himalaya-Gebirge überschritt er zwei Bergreihen und nahm in der dritten, in der Nähe des Rohanta-Sees, umgeben von achtzigtausend Gazellen seinen Aufenthalt. Er ernährte dort seine alten, blinden Eltern.

Es kam aber ein Jägerssohn, der in einem Jägerdorfe unweit von Benares wohnte, in den Himalaya, wo er das große Wesen sah. Hierauf kehrte er in sein Dorf zurück. Als er später im Sterben lag, verkündete er seinem Sohne: „Mein Sohn, in unserm Arbeitsgebiete befindet sich an dem und dem Orte eine goldfarbige Gazelle; wenn der König danach fragen sollte, so melde ihm dies.“

Eines Tages nun hatte die Königin Khema zur Zeit der Morgendämmerung ein Traumgesicht. Der Traum war folgendermaßen: Eine goldfarbige Gazelle saß auf einem goldenen Lager und verkündete, wie wenn sie ein goldenes Glöckchen anschlüge, mit süßer Stimme der Fürstin die Wahrheit. Diese hörte dem mit Wohlgefallen zu. Als aber die Gazelle ihre Wahrheitsverkündigung noch nicht beschlossen hatte, stand sie auf und ging fort; die Königin rief: „Haltet die Gazelle fest“, und erwachte dabei. — Als ihre Dienerinnen und die anderen Frauen ihren Ruf hörten, sagten sie spottend: „Wohl verschlossen sind Türen und Fenster im Hause; auch für den Wind gibt es hier keine Gelegenheit einzudringen. Und sie will zu dieser Zeit eine Gazelle hier festhalten lassen!“

In diesem Augenblicke merkte die Königin, dass es nur ein Traum war, und sie dachte bei sich: „Wenn ich sage, dass es nur ein Traum war, wird der König sich nicht darum bekümmern; wenn ich aber von einem Gelüste spreche, wird er mit Eifer danach suchen. So werde ich die Tugendunterweisung der goldfarbigen Gazelle hören.“ Sie stellte sich krank und legte sich auf ihr Bett. Der König kam und fragte sie: „Liebe, was fehlt dir?“ Sie antwortete: „Es fehlt mir sonst nichts, sondern ich habe nur ein Gelüste bekommen.“ „Was wünschest du?“ „Von einer goldfarbigen tugendhaften Gazelle die Wahrheit verkündigen zu hören, o Fürst.“ Darauf antwortete der König: „Liebe, nach etwas nicht Bestehendem ist dir ein Gelüste gekommen; eine goldfarbige Gazelle nämlich gibt es nicht.“ Doch sie erwiderte: „Wenn ich sie nicht erhalte, so muss ich deswegen sterben“; damit kehrte sie dem Könige den Rücken und blieb liegen.

Der König versetzte: „Wenn es eine solche gibt, wirst du sie erhalten.“ Inmitten seines Gefolges setzte er sich nieder und fragte in der Art, wie im Mora-Jataka [Jataka 491] angegeben, die Minister und die Brahmanen. Als er hörte, es gebe wirklich goldfarbige Gazellen, ließ er die Jäger sich versammeln und fragte sie: „Wer hat schon eine solche Gazelle gesehen, wer hat von einer gehört?“ Da erzählte ihm jener Jägerssohn, wie er es von seinem Vater gehört hatte. Der König versetzte: „Mein Lieber, wenn du mir diese Gazelle herbeibringst, werde ich dir große Ehrung zuteil werden lassen. Gehe und hole sie herbei!“ Nach diesen Worten gab er ihm Geld und entließ ihn. Der Jäger erwiderte: „Wenn ich, o Fürst, sie nicht selbst herbeibringen kann, werde ich ihr Fell herbeibringen; und wenn ich auch dies nicht herbeischaffen kann, so werde ich wenigstens die Haare herbeischaffen. Seid unbesorgt!“

Darauf ging er nach Hause, gab seiner Frau und seinen Kindern das Geld und begab sich an jenen Ort, wo er den Gazellenkönig sah. Als er untersuchte, an welchem Orte er seine Schlinge legen solle, um das Tier fangen zu können, sah er an einer Wasserstelle einen günstigen Platz. Er drehte einen festen Lederriemen zusammen und legte an der Stelle, wo das große Wesen Wasser zu trinken pflegte, die Schlinge, an einen Stock befestigt.

Als nun am nächsten Tage das große Wesen mit seinen achtzigtausend Gazellen sich Futter gesucht hatte, dachte es: „An der gewöhnlichen Wasserstelle will ich trinken“, und ging dorthin; sobald es aber ins Wasser hinabstieg, fing es sich in der Schlinge. Da dachte es: „Wenn ich jetzt sogleich den Gefangenenschrei ausstoße, wird die Schar meiner Verwandten kein Wasser trinken, sondern aus Furcht davonlaufen.“ Während es darum an dem Schlingenstabe hing, tat es, als wenn es Wasser trinke wie sonst und sich in Freiheit befinde. — Nachdem aber die achtzigtausend Gazellen Wasser getrunken hatten und wieder aus dem Wasser herausgekommen waren, machte der Bodhisattva dreimal eine Anstrengung, um die Schlinge zu zerreißen. Beim ersten Male wurde ihm die Haut durchgeschnitten, beim zweiten Male das Fleisch, beim dritten Male durchschnitt die Schlinge die Sehne und traf den Knochen. Als er sie so nicht zerreißen konnte, stieß er das Gefangenengeschrei aus; die Gazellenschar lief voll Furcht in drei Abteilungen davon.

Als aber die Citta-Gazelle das große Wesen in den drei Abteilungen nicht sah, dachte sie: „Diese vorliegende Gefahr wird meinem Bruder zugestoßen sein“; sie ging hin und sah ihn gefesselt. Da ihn das große Wesen sah, sagte es: „Mein Bruder, bleibe nicht hier, gefahrvoll ist dieser Ort.“ Und indem es ihn fortschickte, sprach es folgende erste Strophe:

§1. „Die Herden hier eilen zurück

aus Todesfurcht, o Cittaka.

Geh du auch fort und zögre nicht,

mit dir werden die andern leben.“

Darauf sprachen die beiden abwechselnd folgende drei Strophen:

§2. „Ich geh nicht fort, o Rohanta,

mein Herz ist mir von Trauer schwer.

Ich werd' dich nicht im Stiche lassen,

hier gebe ich mein Leben hin.“

 

§3. „Doch werden deshalb jene sterben,

die Blinden, ohne einen Führer.

Geh du nur fort und zögre nicht;

mit dir vereint werden sie leben.“

 

§4. „Ich gehe nicht, o Rohanta,

mein Herz ist mir von Trauer schwer.

Dich, den Gefangnen, lass ich nicht;

hier gebe ich mein Leben hin.“

So blieb er an der rechten Seite des Bodhisattva stehen, indem er ihn stützte und tröstete.

Auch das junge Gazellenweibchen Sutana war entflohen. Als sie aber unter den anderen Gazellen ihre beiden Brüder nicht sah, dachte sie: „Diese Gefahr wird für meine Brüder entstanden sein.“ Sie kehrte um und kam zu ihnen. Als sie das große Wesen kommen sah, sprach es folgende fünfte Strophe:

§5. „Geh fort, du Scheue, und entflieh;

in eherner Falle fing ich mich.

Geh du nur fort und zögre nicht;

mit dir werden die andern leben.“

Darauf wurden in derselben Art wie oben erwähnt folgende drei Strophen gesprochen:

§6. „Ich geh nicht fort, o Rohanta,

mein Herz ist mir von Kummer schwer.

Ich werd' dich nicht im Stiche lassen,

hier werd' ich aufgeben mein Leben.“

 

§7. „Doch werden deshalb jene sterben,

die Blinden, ohne einen Führer.

Geh du nur fort und zögre nicht;

mit dir vereint werden sie leben.“

 

§8. „Ich gehe nicht, o Rohanta,

mein Herz ist mir von Trauer schwer.

Dich, den Gefangnen, lass ich nicht;

hier werd' mein Leben ich aufgeben.“

Nachdem auch sie so ihren Bruder zurückgewiesen, stellte sie sich auf die linke Seite des großen Wesens und tröstete es.

Als aber der Jäger die Gazellen davonlaufen sah und den Gefangenenschrei hörte, dachte er: „Der Gazellenkönig wird gefangen sein“, band seinen Gürtel fest und ging mit einem Speer zum Töten der Gazelle in der Hand rasch darauf los. Als das große Wesen ihn herankommen sah, sprach es folgende neunte Strophe:

§9. „Da kommt der Jäger hergegangen,

wütend zu sehn, mit seiner Waffe;

er wird uns töten heute noch

mit seinem Bogen, seinem Speer.“

Aber auch als ihn die Citta-Gazelle sah, entfloh sie nicht. Sutana jedoch war nicht im Stande, aus eigner Kraft zu bleiben, sondern sie lief von Todesfurcht erfüllt ein wenig fort. Dann aber dachte sie: „Wenn ich meine beiden Brüder im Stiche lasse, wohin soll ich da fliehen?“ Indem sie ihr Leben opferte und mit der Stirn den Tod erwartete, kam sie zurück und stellte sich an die linke Seite ihres Bruders.

Um dies zu verkündigen, sprach der Meister folgende zehnte Strophe:

§10. Da sie ein Stückchen fortgelaufen
von Furcht und Todesangst erfüllt,
etwas gar Schweres tat die Scheue;
zurück sie kehrte, um zu sterben.“

Als aber der Jäger herankam und die drei Leute zusammen stehen sah, entstand in ihm ein Gedanke der Liebe, und da er sie für Zwillingsbrüder hielt, dachte er: „Der Gazellenkönig ist jetzt in der Schlinge gefesselt; diese beiden anderen aber sind durch die Bande der Scheu und Ehrfurcht gefesselt. In welchem Verhältnis stehen sie zu ihm?“ Und er fragte sie folgendermaßen :

§11. „Wie stehn zu dir diese Gazellen?
Selbst frei sie ehren den in Fesseln.
Wünschen sie, dich nicht zu verlassen,
auch um des eignen Lebens willen?“

Darauf verkündete ihm der Bodhisattva:

§12. „Brüder sind sie von mir, o Jäger,
von einer Mutter gleich geboren.
Sie wünschen, mich nicht zu verlassen,
auch um des eignen Lebens willen“

Als der Jäger dessen Worte hörte, wurde er noch mehr sanften Sinnes. Da aber der Gazellenkönig Citta dessen Sanftmut erkannte, sprach er zu ihm: „Lieber Jäger, glaube nicht von diesem Gazellenkönig: ‘Er ist nur eine Gazelle’; denn dieser ist der König von achtzigtausend Gazellen, mit tugendhaftem Wandel ausgestattet, voll Sanftmut gegen alle Wesen, groß an Weisheit; seine blinden, alten Eltern ernährt er. Wenn du einen so Tugendhaften tötest, so tötest du damit auch unsere Eltern, mich und meine Schwester; also uns fünf Leute tötest du dann. Wenn du aber meinem Bruder das Leben schenkst, so bist du der Lebensretter für uns alle fünf.“ Und er fügte folgende Strophe hinzu:

§13. „Die Eltern werden deshalb sterben,
die blinden, ohne ihren Führer.
Schenke das Leben doch uns fünfen;
befrei, o Jäger, meinen Bruder.“

Als jener dessen Tugendunterweisung vernahm, sagte er befriedigten Herzens: „Fürchte dich nicht, Gebieter“, und sprach folgende weitere Strophe:

§14. „So gebe ich euch also frei
den Bruder, der ernährt die Eltern;
froh mögen sein die Eltern, wenn sie
frei sehen die große Gazelle.“

Nachdem er aber so gesprochen, dachte er: „Was soll mir die mir vom König verliehene Ehrung bedeuten? Wenn ich diesen Gazellenkönig töten werde, so wird entweder diese Erde zerbersten und sich spalten oder ein Blitz wird mein Haupt treffen. Ich werde ihn loslassen.“ Er ging zum Bodhisattva hin, ließ den Schlingenstab herunterfallen und zerriss die lederne Schnur. Dann umfasste er den Gazellenkönig, legte ihn am Rande des Wassers nieder, machte ihn mit Sanftmut sachte von der Schlinge los, verband Sehne mit Sehne, Fleisch mit Fleisch und Haut mit Haut und wusch ihm mit Wasser das Blut ab; hierauf rieb er ihn immer wieder mit Sanftmut. Durch die Macht seiner Liebe sowie durch die Macht der Vollendung des großen Wesens fügte sich alles, Sehnen, Fleisch und Haut, wieder zusammen. An seinem Fuße waren wieder die Haut und die Haare zusammengewachsen; man merkte nicht einmal mehr, an welcher Stelle er gefesselt gewesen war. Glücklich genesen stand das große Wesen auf.

Als dies die Citta-Gazelle sah, sprach sie voll Freude, um dem Jäger die Danksagung darzubringen, folgende Strophe:

§15. „So, Jäger, mögest du dich freuen

mit allen deinen Anverwandten,

wie ich mich heute freue, da ich

befreit seh die große Gazelle.“ —

Doch das große Wesen dachte: „Hat nun wohl dieser Jäger, da er mich fing, mich aus eigenem Antrieb gefangen oder auf Befehl eines anderen?“ Und es fragte ihn, warum er es gefangen habe. Der Jäger erwiderte: „Gebieter, ich hatte kein Bedürfnis nach Euch; die erste Gemahlin des Königs aber, Khema mit Namen, ist begierig, Eure Tugendunterweisung zu hören. Zu diesem Zwecke habe ich Euch auf Befehl des Königs gefangen.“ Der Bodhisattva versetzte: „Mein Lieber, wenn es sich so verhält, so tust du, wenn du mich freilässt, etwas gar zu Schweres. Komm, führe mich zum Könige hin und zeige mich ihm! Ich werde der Königin die Wahrheit verkündigen.“ Doch der Jäger antwortete: „Gebieter, die Könige sind doch grausam; wer weiß, was geschehen wird? Mich verlangt nicht nach der mir vom Könige erwiesenen Ehrung. Gehe du hin, wohin es dir beliebt.“

Abermals dachte das große Wesen: „Wenn dieser mich freilässt, so tut er damit eine sehr schwere Tat. Ich werde ihm ein Mittel geben, wodurch er seine Ehrung zurückerhalten kann.“ Er sprach: „Mein Lieber, reibe mir sogleich den Rücken mit deiner Hand!“ Jener rieb, da wurde seine Hand voll von goldfarbigen Haaren. Er fragte nun: „Gebieter, was soll ich mit diesen Haaren tun?“ Der Bodhisattva antwortete: „Mein Lieber, zeige diese Haare dem König und der Königin und sage dazu: ‘Dies sind die Haare jener goldfarbigen Gazelle.’ Dann tritt an meine Stelle und verkündige mit diesen Strophen der Fürstin die Wahrheit; sobald sie diese vernommen, wird ihr Gelüste gestillt sein.“ Er ließ ihn die zehn Strophen über tugendhaften Wandel, die beginnen: „Übe Gerechtigkeit, o König [6]“, lernen, gab ihm die fünf Gebote, ermahnte ihn zur Standhaftigkeit im Guten und entließ ihn. Der Jägerssohn aber behandelte das große Wesen wie seinen Lehrer; er umwandelte es von rechts, bezeigte ihm mit den vier Stellen [7] seine Verehrung, nahm die Haare in einem Lotosblatt mit und ging fort.

Die drei anderen aber gingen noch ein Stückchen mit ihm; dann nahmen sie Futter und Wasser in das Maul und begaben sich damit zu ihren Eltern. Die Eltern fragten: „Mein Sohn Rohanta, du warst doch gefangen; wie wurdest du befreit?“ Und sie sprachen folgende Strophe:

§16. „Wie wurdest du denn noch befreit,
da schon dein Leben war verloren?
Wie hat, mein Sohn, dich frei gemacht
der Jäger von der festen Schlinge?“

Als dies der Bodhisattva hörte, sprach er folgende drei Strophen:

§17. „Da er ein Wort sprach lieb zum Hören,

zum Herzen gehend, vom Herzen kommend,

mit solchen wohl gesprochnen Worten

hat Cittaka mich frei gemacht.

 

§18. Da sie ein Wort sprach lieb zum Hören,

zum Herzen gehend, von Herzen kommend,

mit solchen wohl gesprochnen Worten

hat Sutana mich frei gemacht.

 

§19. Da er das Wort vernahm, das liebe,

zu Herzen gehend, von Herzen kommend,

als er vernahm die guten Worte,

hat mich der Jäger frei gemacht.“

Zu ihm aber sprachen seine Eltern, um ihren Dank abzustatten:

§20. „So voller Freude möge sein

der Jägersmann mit Weib und Kindern,

wie heute wir sind hocherfreut,

da wir Rohanta kommen sahen. —

Der Jäger aber kam aus dem Walde heraus, ging in den königlichen Palast, bezeigte dem Könige seine Verehrung und blieb vor ihm stehen. Als ihn der König sah, sprach er:

§21. „Hast du denn nicht gesagt, o Jäger:

‘Ich bringe das Gazellenfell?’

Aus welchem Grunde aber bringst du

mir nicht das Fell jener Gazelle?“

Als dies der Jäger hörte, sprach er:

§22. „Es war in meine Hand gekommen

und in die Schlinge die Gazelle;

gefesselt war sie, doch es blieben

die Freien [8] beim Gazellenkönig.

 

§23. Darüber macht' ich mir Vorwürfe,

haarsträubende, wie nie zuvor:

‘Wenn ich diese Gazelle töte,

muss ich dafür noch heute sterben.’“

 

§24. „Was waren das für Tiere, Jäger,

was für tugendhafte Gazellen?

Wie war ihr Aussehn, ihr Benehmen?

Gar sehr hast du sie doch gepriesen!“

So fragte der König immer wieder voll Erstaunen. Als dies der Jäger hörte, sprach er folgende Strophe:

§25. „Glänzend die Hörner, weiß die Schwänze,

die Haut leuchtend wie edles Gold,

die Füße waren rot wie Blut,

die Augen glänzend wie von Salbe.“

Während er dies sagte, legte er die goldfarbenen Haare des großen Wesens dem Könige in die Hand und sprach, um die Körperschönheit dieser Gazellen zu preisen, folgende Strophe:

§26. „So waren diese Tiere, König,

so tugendhaft sind die Gazellen.

Auch ihre Eltern sie ernähren;

drum brachte ich sie nicht herbei.“

Nachdem er so die Vorzüge des großen Wesens, der Citta-Gazelle und des jungen Gazellenweibchens Sutana gefeiert hatte, fuhr er fort: „O Großkönig, mir hat der Gazellenkönig befohlen, seine Haare vorzuzeigen und dann an seiner Stelle der Königin die Wahrheit zu verkündigen mit den zehn Strophen über den tugendhaften Wandel, die er mich zuvor lernen ließ [9].“

Als dies der König hörte, ließ er jenen auf einer mit den sieben Arten der Kostbarkeiten eingelegten Bank Platz nehmen, setzte sich selbst mit der Königin zur Seite auf einen niederen Sitz und bat ihn darum mit gefalteten Händen. Jener aber sprach, indem er die Wahrheit verkündete:

§26.1. „Übe Gerechtigkeit, o König,

bei deinen Eltern, edler Krieger [10];

wenn hier Gerechtigkeit geübt

ein König, kommt er in den Himmel.

 

§26.2. Übe Gerechtigkeit, o König,

bei Weib und Kindern, edler Krieger;

wenn hier Gerechtigkeit geübt

ein König, kommt er in den Himmel.

 

§26.3. Übe Gerechtigkeit, o König,

unter den Freunden und Ministern;

wenn hier Gerechtigkeit geübt

ein König, kommt er in den Himmel.

 

§26.4. Übe Gerechtigkeit, o König,

bei deinen Reitern [11] und Soldaten;

wenn hier Gerechtigkeit geübt

ein König, kommt er in den Himmel.

 

§26.5. Übe Gerechtigkeit, o König,

in deinen Dörfern, deinen Flecken;

wenn hier Gerechtigkeit geübt

ein König, kommt er in den Himmel.

 

§26.6. Übe Gerechtigkeit, o König,

in deinen Ländern, deinen Völkern;

wenn hier Gerechtigkeit geübt

ein König, kommt er in den Himmel.

 

§26.7. Übe Gerechtigkeit, o König,

gegen Asketen und Brahmanen;

wenn hier Gerechtigkeit geübt

ein König, kommt er in den Himmel.

 

§26.8. Übe Gerechtigkeit, o König,

gegen die Tiere und die Vögel;

wenn hier Gerechtigkeit geübt

ein König, kommt er in den Himmel.

 

§26.9. Übe Gerechtigkeit, o König;

gerechter Wandel bringt das Glück;

wenn hier Gerechtigkeit geübt

ein König, kommt er in den Himmel.

 

§26.10. Übe Gerechtigkeit, o König;

Indra, die Götter und die Brahmas [12]

wurden durch rechten Wandel Götter.

Lasse nicht nach, gerecht zu sein.

 

§26.11. Das sind meine Ermahnungen,

das ist die Vorschrift, die ich gebe;

die Tugend, die der Weisheit voll,

geht in den Götterhimmel ein.“

So erklärte der Jägerssohn in der ihm vom Bodhisattva gezeigten Weise, wie wenn er die himmlische Ganga [13] herabströmen ließe, mit Buddha-Anmut die Wahrheit. Die Volksmenge rief tausendstimmig Beifall. Sobald aber die Fürstin diese Wahrheitsverkündigung vernommen hatte, wurde ihr Gelüste gestillt [14].

Hocherfreut befriedigte der König den Jägerssohn mit großer Ehrung und sprach folgende Strophen:

§27. „Ich geb dir hundert Nikkhas [15], Jäger,
und einen Ohrschmuck schwer von Gold,
auch einen Diwan mit vier Sitzen,
der wie des Flachses Blüten glänzt,

 

§28. dann zwei entsprechende Gattinnen

und einen Stier mit hundert Kühen.

Gerecht will ich die Herrschaft führen;

viel Gutes, Jäger, tatst du mir.

 

§29. Ackerbau, Handel, Geld Verleihen,

Ähren Auflesen auch, o Jäger —

damit ernähre Weib und Kinder;

nichts Böses tue mehr fortan [16]!“

Als aber jener des Königs Worte vernommen, sagte er: „Mich verlangt nicht nach dem Leben im Hause; erlaube, dass ich die Welt verlasse, o Fürst!“ Nachdem er vom Könige die Erlaubnis erhalten, gab er das ihm vom Könige geschenkte Geld seinem Weib und seinen Kindern und zog in den Himalaya. Hier betätigte er die Weltflucht der Weisen, erlangte die acht Vollkommenheiten und wurde später ein Bewohner der Brahmawelt. Der König beharrte ebenfalls bei der Ermahnung des großen Wesens und gelangte dadurch in den Himmel. Die Ermahnung aber hatte tausend Jahre lang Bestand.

 

§C. Nachdem der Meister diese Unterweisung beschlossen hatte, fügte er hinzu: „So, ihr Mönche, hat Ananda auch früher schon sein Leben für mich aufgeopfert“, und verband hierauf das Jataka mit folgenden Worten: „Damals war der Jäger Channa, der König war Sāriputta, die Königin war die Nonne Khema, die Eltern gehörten zur Großkönigsfamilie, Sutana war Uppalavanna, die Citta-Gazelle war Ananda, die achtzigtausend Gazellen waren die Angehörigen der Sakyafamilie, der Gazellenkönig Rohanta aber war ich.“

Ende der Erzählung von der Rohanta-Gazelle


[1] Auf Deutsch „das Achtziger-Buch“, in der Reihenfolge Buch XXI.

[3] Dhanapala (= Geldhüter) ist der spätere Name des Elefanten Nalagiri, der von Devadatta auf seinen Meister losgelassen wurde; vgl. „Leben des Buddha“, S. 177 ff.

[4] Ananda gilt nicht als Heiliger; bis zum Tode des Meisters war er noch nicht über die unvollkommene Erkenntnis hinaus gelangt; vgl. „Leben des Buddha“, S. 292 f.

[6] Diese Strophen, die nur in einer Handschrift vorhanden sind, folgen unten Strophen 26.1-26.10.

[7] Gewöhnlich werden fünf derartige Stellen genannt: Stirn, Ellbogen, Leib, Knie und Füße. Vielleicht sind die letzteren hier ausgenommen.

[8] Gemeint sind der Bruder und die Schwester, die nicht gefangen waren.

[9] Das folgende steht nur in einer Handschrift, die auf die burmesische Rezension zurückgeht. Die anderen Handschriften haben lediglich: „Nach diesen Worten setzte er sich auf eine goldene Bank und verkündete mit diesen Worten die Wahrheit. Bei der Königin aber hörte das Gelüste auf usw.“ Die Strophen finden sich übrigens auch im Jataka 521 Strophen 38-47.

[10] Wörtlich: „du Mann aus der Krieger-(Khattiya-)Kaste“.

[11] Wörtlich: „bei Wagen und Heeren“. Die Deutung von Rouse „in war and travel“ erscheint verfehlt.

[12] Gemeint sind die vier Mahabrahmas oder Erzengel, unter denen entweder die Welthüter („lokapala“) oder die obersten Götter verstanden werden.

[13] Vgl. Jataka 402 Anm. 6. [und Jataka 173 Anm. 2: Mit der himmlischen Ganga ist die Milchstraße gemeint.]

[14] Damit hört der besondere Text der Handschrift B auf.

[15] Ein in den Jatakas oft genanntes mittleres Goldgewicht.

[16] Diese in den Wäldern lebenden Jäger waren nebenbei oft Räuber; vgl. oben Jataka 495 Strophen 34-35.


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