Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten

414. Die Erzählung von dem Wachen (Jagara-Jataka)

„Wer schläft hier, wo die andern wachen“

 

§A. Dies erzählte der Meister, da er im Jetavana verweilte, mit Beziehung auf einen Laienbruder. Dieser nämlich, ein bekehrter edler Schüler [1], gelangte mit einer Wagenkarawane von Savatthi aus auf eine Straße, die durch einen Wald führte. Dort ließ der Karawanenführer an einer bequemen Wasserstelle die fünfhundert Wagen losmachen, verteilte feste und flüssige Speise und nahm hier seinen Aufenthalt für die Nacht. Die Leute legten sich allenthalben nieder und schliefen. Der Laienbruder aber wandelte beständig in der Nähe des Karawanenführers am Fuße eines Baumes auf und ab [2].

Da kamen fünfhundert Räuber mit verschiedenen Waffen in den Händen heran, um die Karawane auszuplündern und stellten sich rings um die Karawane auf. Als sie den Laienbruder auf- und abgehen sahen, dachten sie: „Wenn er schläft, wollen wir sie ausplündern“, und blieben allenthalben stehen. Jener aber ging die ganzen drei Nachtwachen auf und ab. Als die Morgendämmerung hereinbrach, riefen sie: „He, du Karawanenführer, durch diesen unermüdlich wachenden Mann wurde dir das Leben errettet und du bist durch ihn der Besitzer deines Eigentums geblieben. Erweise ihm dafür Ehrung!“ Bei diesen Worten warfen sie die Steine, Keulen u. dgl., die sie gepackt hatten, fort und entfernten sich.

Als aber die Leute nach einiger Zeit aufstanden und die von jenen weggeworfenen Steine und anderen Waffen sahen, sagten sie: „Durch diesen wurde uns das Leben gerettet“, und erwiesen ihm Ehrung. Nachdem aber der Laienbruder an den gewünschten Ort gekommen war und sein Geschäft besorgt hatte, kehrte er nach Savatthi zurück und begab sich nach dem Jetavana, wo er dem Vollendeten seine Verehrung bezeigte. Als er ihn begrüßt hatte und neben ihm saß, fragte dieser: „Warum sieht man dich nicht mehr, o Laienbruder?“ Darauf erzählte er ihm die Geschichte. Der Meister erwiderte: „Nicht nur du, o Laienbruder, hast dadurch, dass du nicht schliefest, sondern wachtest, die Ehre erworben; auch die Weisen der Vorzeit erwarben sich durch ihr Wachen Auszeichnung.“ Nach diesen Worten erzählte er auf seine Bitte folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

 

§B. Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, nahm der Bodhisattva in einer Brahmanenfamilie seine Wiedergeburt. Nachdem er herangewachsen war und zu Takkasila alle Künste erlernt hatte, kehrte er zurück und wohnte im Hause. In der Folgezeit aber ging er fort und betätigte die Weltflucht der Weisen. Nicht lange danach erlangte er die Fähigkeit zur Ekstase und die Erkenntnisse. Er wohnte im Himalaya-Gebirge, indem er sich auf das Stehen und das Herumgehen beschränkte; ohne zu schlafen, wandelte er die ganze Nacht umher. Die Gottheit aber, die in dem Baume am Ende seines Wandelganges wohnte, war davon sehr befriedigt. Sie trat in eine Öffnung des Baumes und sprach, indem sie eine Frage an ihn richtete, folgende erste Strophe:

§1. „Wer schläft hier, wo die andern wachen,
wer wacht hier, wo die andern schlafen?
Wer kann mir diese Frage lösen,
wer kann mir darauf Antwort geben?“

Als der Bodhisattva ihre Worte vernommen, sprach er folgende Strophe:

§2. „Ich schlafe, wo die andern wachen,
ich wache, wo die andern schlafen;
ich kann dir diese Frage lösen,
ich kann dir darauf Antwort geben.“

Da ihn die Gottheit weiter fragte:

§3. „Wie schläfst du, wo die andern wachen,

wie wachst du, wo die andern schlafen?

Wie kannst du diese Frage lösen,

wie kannst du mir drauf Antwort geben?“,

sprach er, um ihr zu antworten, folgende Strophen:

§4. „Unter den Leuten, die die Wahrheit

nicht kennen, noch die Selbstbezwingung,

ja wenn derart'ge Leute schlafen,

da bin allein ich wach, o Gottheit.

 

§5. Doch wer getilgt hat die Begierde,

die Sünde, die Unwissenheit:

wenn solche Leute wachen, Gottheit,

da kann fürwahr ich ruhig schlafen.

 

§6. So schlaf ich unter Wachenden,

so wach ich unter Schlafenden.

So löse ich dir deine Frage,

so gebe ich dir darauf Antwort.“

Als so der Bodhisattva die Frage gelöst hatte, sprach hochbefriedigt die Gottheit, um ihn zu preisen, folgende Schlussstrophe:

§7. „Gut schläfst du unter Wachenden,

gut wachst du unter Schlafenden.

Gut hast die Frage du gelöst,

gut hast du Antwort mir gegeben.“

Nachdem sie so den Bodhisattva gepriesen, kehrte sie in ihre Behausung zurück.

 

§C. Nachdem der Meister diese Unterweisung beschlossen, verband er das Jataka mit folgenden Worten: „Damals war die Gottheit Uppalavanna, der Asket aber war ich.“

Ende der Erzählung von dem Wachen


[1] Er war also auf dem ersten Wege zur Heiligkeit.

[2] Vgl. dazu die ähnliche Erzählung im 76. Jataka.


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