Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten

222. Die Erzählung von Cullanandiya (Cullanandiya-Jataka) [1]

„So lautete das Wort das Lehrers“

 

§A. Dies erzählte der Meister, da er im Veluvana verweilte, mit Beziehung auf Devadatta. — Eines Tages nämlich begannen die Mönche in der Lehrhalle folgende Unterhaltung: „Freund, Devadatta ist grausam, roh und gewalttätig. Er hat Leute ausgeschickt, die den völlig Erleuchteten töten sollten, er schleuderte auf ihn einen Felsblock, er ließ gegen ihn den Elefanten Nalagiri los [2]. Er hat keine Hingebung, Liebe oder Mitleid gegen den Vollendeten.“ Da kam der Meister und fragte: „Zu welcher Unterhaltung, ihr Mönche, habt ihr euch jetzt hier niedergelassen?“ Als sie antworteten: „Zu der und der“, sprach er: „Nicht nur jetzt, ihr Mönche, ist Devadatta grausam, roh und ohne Mitleid, sondern auch schon früher war er so.“ Nach diesen Worten erzählte er folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

 

§B. Als ehedem zu Benares Brahmadatta regierte, war der Bodhisattva ein Affe im Himalaya-Gebirge mit Namen Nandiya; sein jüngerer Bruder aber hieß Cullanandiya (= „der kleine Nandiya“). Diese beiden weilten im Himalaya-Gebirge, umgeben von achtzigtausend Affen, und ernährten ihre blinde Mutter. Sie ließen ihre Mutter in dem Dickicht, wo sie lag, zurück, gingen in den Wald und suchten süße Waldfrüchte, die sie ihrer Mutter schickten. Die Überbringer aber gaben sie ihr nicht; darum war sie von Hunger gequält und bestand nur noch aus Haut und Knochen.

Es sprach aber der Bodhisattva zu ihr: „Mutter, wir schicken Euch doch süße Früchte; warum magert Ihr so ab?“ Die Mutter erwiderte: „Mein Sohn, ich erhalte keine.“ Nun dachte der Bodhisattva bei sich: „Während ich die Herde leite, wird meine Mutter zugrunde gehen. Ich will die Herde aufgeben und nur meine Mutter pflegen.“ Er rief Cullanandiya herbei und sagte ihm: „Mein Lieber, leite du die Herde; ich will die Mutter pflegen.“ Aber auch dieser sprach zu ihm: „Brüderchen, mich verlangt nicht danach, die Herde zu leiten; auch ich will nur die Mutter pflegen.“ So verließen die beiden einmütig die Herde. Mit ihrer Mutter stiegen sie vom Himalaya herab, nahmen an der Grenze auf einem Nigrodha-Baume Wohnung und pflegten ihre Mutter. —

Ein junger Brahmane, der zu Benares wohnte, hatte zu Takkasila bei einem weitberühmten Lehrer alle Künste gelernt und verabschiedete sich von seinem Lehrer mit den Worten: „Ich will gehen.“ Der Lehrer wusste infolge seiner Kenntnis der Vorzeichen [3], dass jener grausam, roh und gewalttätig war, und sagte zu ihm: „Mein Lieber, du bist grausam, roh und gewalttätig. Solche Leute aber haben nicht die ganze Zeit über auch nur einen Erfolg; sie stürzen in großes Verderben, in großes Leid. Sei nicht grausam; tue nicht etwas, das du nachher büßen musst.“ Nachdem er ihn so ermahnt, entließ er ihn.

Jener grüßte seinen Lehrer und kehrte nach Benares zurück, wo er ein häusliches Leben [4] begann. Da er aber mit anderen Künsten sich nicht seinen Lebensunterhalt erwerben konnte, dachte er: „Durch meinen Bogen will ich leben“, und betrieb das Gewerbe eines Jägers. Um sich seinen Unterhalt zu erwerben, verließ er Benares und nahm in einem Grenzdorfe Wohnung. Mit Bogen und Köcher ausgerüstet ging er in den Wald, tötete verschiedene Tiere und erwarb sich seinen Unterhalt durch den Verkauf ihres Fleisches.

Als er nun eines Tages im Walde nichts erbeutet hatte und zurückkehrte, sah er am Rande einer offenen Stelle jenen Nigrodha-Baum stehen; und da er dachte: „Vielleicht kann dort etwas sein“, ging er auf den Nigrodha-Baum zu. In diesem Augenblick sahen die beiden Brüder, die gerade ihre Mutter mit Früchten gefüttert hatten und nun hinter ihr im Geäste saßen, wie jener herankam, und sie versteckten sich in den Zweigen, indem sie dachten: „Was wird er tun, wenn er unsere Mutter sieht?“ — Als nun jener gewalttätige Mann an den Fuß des Baumes kam, sah er ihre alte, kranke, blinde Mutter. Aber er dachte: „Was soll ich mit leeren Händen gehen? Ich werde diese Äffin erlegen und mit ihr fortgehen.“ Und um sie zu schießen, fasste er seinen Bogen.

Als dies der Bodhisattva bemerkte, sagte er: „Lieber Cullanandiya, dieser Mann will die Mutter erschießen. Ich will für sie mein Leben hingeben; pflege du nach meinem Tode die Mutter.“ Nach diesen Worten kam er aus den Zweigen heraus und sprach: „He, Mann, töte nicht meine Mutter! Sie ist blind, alt und krank. Ich gebe für sie mein Leben hin; töte mich und lasse sie am Leben.“ Nachdem er die Einwilligung von jenem erhalten, setzte er sich in Bogenschussweite nieder. Mitleidslos schoss jener den Bodhisattva, dass er tot zu Boden fiel. Dann fasste er wieder seinen Bogen, um auch die Mutter zu erschießen.

Als dies Cullanandiya sah, dachte er: „Dieser Mann will meine Mutter erschießen. Wenn meine Mutter auch nur noch einen Tag lebt, so hat sie doch ihr Leben behalten. Ich will für sie mein Leben hingeben.“ Und er kam aus den Zweigen heraus und rief: „He, Mann, töte nicht meine Mutter! Ich gebe für sie mein Leben hin. Töte du mich, nimm uns zwei Brüder mit und schenke unsrer Mutter das Leben.“ Nachdem er die Einwilligung des Jägers erhalten, setzte er sich in Bogenschussweite nieder. Jener traf und tötete auch ihn. Dann dachte er: „Dies wird für meine Kinder zuhause sein“; und er traf auch die Mutter, dass sie tot zu Boden fiel. Er hing alle drei an seine Tragstange und ging nach seinem Hause zu.

In das Haus dieses bösen Mannes aber schlug der Blitz ein und verbrannte seine Frau und die beiden Kinder nebst dem Hause. Nur ein Bambuspfeiler an der Rückseite blieb übrig. Am Dorftore teilte dem Jäger ein Mann, der ihn sah, dies Ereignis mit. Von Schmerz über seine Kinder und seine Frau überwältigt, warf er auf der Stelle seine Tragstange mit dem Fleisch und seinen Bogen weg, schleuderte sein Gewand fort und ging nackt mit ausgebreiteten Armen jammernd in sein Haus hinein. Da stürzte jener Pfeiler zusammen, fiel auf sein Haupt und zerschmetterte ihm seinen Kopf. Die Erde öffnete sich und aus der Hölle stieg eine Flamme empor.

Während er von der Erde verschlungen wurde, erinnerte er sich an die Ermahnung seines Lehrers und er dachte: „Fürwahr, weil dies der Brahmane Parasariya [5] voraussah, gab er mir jene Ermahnung.“ Jammernd sprach er die folgenden beiden Strophen:

§1. „So lautete das Wort des Lehrers,

das Parasariya gesagt:

Nicht darfst du etwas Böses tun,

das dich, wenn es geschehen, peinigt.

 

§2. Die Taten, die ein Mann getan,

die sieht er alle an sich selbst.

Wer Gutes tat, der siehet Gutes;

wer aber Böses tat, sieht Böses.

Denn wie der Same, den man säet,

so wird die Frucht sein, die man erntet.“

Während er so klagte, kam er in die Erde hinein und wurde in der großen Avici-Hölle wiedergeboren.

 

§C. Nachdem der Meister mit den Worten: „Nicht nur jetzt, ihr Mönche, ist Devadatta grausam, roh und gewalttätig, sondern auch früher schon war er grausam, roh und mitleidslos“, diese Lehrunterweisung beschlossen hatte, verband er das Jataka mit folgenden Worten: „Damals war der Jäger Devadatta, der weltbekannte Lehrer war Sāriputta, Cullanandiya war Ananda, die Mutter war Mahapajapati Gotami [6], der große Nandiya aber war ich.“

Ende der Erzählung von Cullanandiya


[1] Fausböll hat „Culanandiya“; doch wird in der Erzählung selbst [und im Schlusstitel] immer die Form „Cullanandiya“ gebraucht.

[2] Vgl. „Leben des Buddha“, S. 173-180.

[3] Damit ist gemeint die Fähigkeit, aus dem Äußern einer Person auf ihre Veranlagung und auf ihre Zukunft zu schließen.

[4] Im Gegensatz zum Asketenleben.

[5] Dieser Name ist vielleicht nur eine Entstellung von „pura-cariya“ = „der frühere Lehrer“; eine ähnliche Lesart bieten zwei Handschriften.

[6] Dies war eine Tante Buddhas und die Begründerin des Nonnenordens. Vgl. „Leben des Buddha“, S. 149-157.


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