Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten

94. Die Erzählung vom Haarsträuben (Lomahamsa-Jataka) [1]

„Gedörrt ist er und erfroren“

 

§A. Dies erzählte der Meister, da er bei Vesali im Patika-Kloster verweilte, mit Beziehung auf Sunakhatta. Zu einer Zeit nämlich war Sunakhatta der Aufwärter des Meisters und wandelte mit Almosenschale und Obergewand herum. Da gefiel ihm die Lehre des Kora aus der Kriegerkaste; und er gab dem mit den zehn Kräften Ausgestatteten Almosenschale und Obergewand zurück und wurde durch den Krieger Kora wieder ein Laie, zur Zeit als dieser als Kalakanjaka-Asura [2] wiedergeboren wurde. Darauf ging er in Vesali innerhalb der drei Mauern umher und verkündete die Unehre des Meisters, indem er sprach: „Der Asket Gotama besitzt nicht den höchsten von Menschen erreichbaren Zustand, das Bereich der völligen Erkenntnis edlen Wissens. Der Asket Gotama predigt eine seinem Denken entsprungene Lehre, die durch Überlegung gewonnen ist, die aus seinem eigenen Verstande herrührt. Die Lehre, die er eben darum verkündigt, führt nicht zur Befreiung von allem Übel bei dem, der nach ihr handelt.“

Als aber der ehrwürdige Sāriputta auf seinem Almosengange vernahm, wie dieser die Unehre des Meisters verkündete, meldete er diese Begebenheit dem Erhabenen, als er von seinem Almosengang zurückkehrte. Der Erhabene sprach: „O Sāriputta, von Leidenschaft beseelt ist Sunakkhatta, der verblendete Mann; infolge seiner Leidenschaft spricht er so. Indem er infolge seiner Leidenschaft sagt: ‘Diese Lehre führt nicht zur Befreiung von allem Übel bei dem, der nach ihr handelt’, verkündet er, ohne es zu wissen, nur meinen Vorzug. Dieser verblendete Mann aber kennt nicht meinen Vorzug: Ich besitze nämlich, o Sāriputta,

Auch darin besteht bei mir der höchste von Menschen erreichbare Zustand. Wer aber von mir sagt: ‘Der Asket Gotama besitzt nicht den höchsten von Menschen erreichbaren Zustand’, der ist, wenn er dies Wort nicht zurücknimmt, diesen Gedanken nicht fallen lässt, diese falsche Lehre nicht aufgibt, mit Recht der Hölle verfallen.“ Nachdem er so den ihm zukommenden Vorzug des höchsten von Menschen erreichbaren Zustandes auseinandergesetzt hatte, fuhr er fort: „O Sāriputta, Sunakkhatta ist befriedigt über den Wandel in Abtötung, die falsche Askese des Kriegers Kora. Da ihm aber die falsche Askese gefällt, kann ich ihm nicht gefallen. Ich habe vor einundneunzig Weltaltern gedacht: ‘Darin beruht wohl die Vollkommenheit’, und in Betätigung der falschen Askese der Irrgläubigen den aus vier Gliedern bestehenden reinen Wandel durchgeführt. Ich war asketisch, äußerst asketisch; ich war rau, äußerst rau; ich war zurückhaltend, äußerst zurückhaltend; ich war zurückgezogen, äußerst zurückgezogen [6].“ Und nach diesen Worten erzählte er auf die Bitte des Thera folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

 

§B. Ehedem vor einundneunzig Weltaltern dachte der Bodhisattva: „Ich will die häretische Askese betätigen“, und wurde ein Ajivika-Mönch [7]. Er war nackt, mit Staub und Schmutz bedeckt, er war zurückgezogen und einsam lebend; wenn er Menschen sah, entfloh er wie eine Gazelle; er übte das große Schmutzverzehren und genoss Fische, Kuhmist u. dgl. Um in seinem Eifer zu beharren, hielt er sich in einem Walde auf in einem furchtbaren Gehölz. Während er sich dort aufhielt, ging er zur Zeit, da Schnee fiel, in den acht Tagen [8] bei Nacht aus dem Walde und verweilte unter freiem Himmel; und wenn die Sonne aufgegangen war, ging er in den Wald. Und wie er bei Nacht unter freiem Himmel vom Schneewasser nass wurde, so wurde er bei Tage durch die vom Walde herniederrieselnden Tropfen durchnässt. So litt er Tag und Nacht unter der Kälte. Im letzten Monat des Sommers aber hielt er sich bei Tage unter freiem Himmel auf und ging bei Nacht in das Gehölz; und wie er bei Tage unter freiem Himmel durch die Hitze am Fieber gelitten hatte, so litt er bei Nacht in dem windfreien Gehölz am Fieber und Schweißtropfen fielen von seinem Körper. Da erdachte er folgende vorher noch nicht gehörte Strophe:

§1. „Gedörrt ist er und erfroren,

allein im furchtbaren Walde,

nackt und sitzt nicht am Feuer,

nur auf sein Vorhaben bedacht der Weise.“

Nachdem der Bodhisattva aber so den aus vier Gliedern bestehenden reinen Wandel betätigt hatte, sah er, als er sterben sollte, das Bild der Hölle vor sich erstehen und er erkannte: „Fürwahr, diese Betätigung ist nutzlos“; und in diesem Augenblick gab er diese falsche Lehre auf, nahm die wahre Lehre an und wurde in der Götterwelt wiedergeboren.

 

§C. Nachdem der Meister diese Lehrunterweisung beschlossen hatte, verband er das Jataka mit folgenden Worten: „Ich war zu der Zeit der nackte Asket.“

Ende der Erzählung von dem Haarsträuben


[1] Der Titel ist vom Majjhima-Nikaya 12 herübergenommen, das die Grundlage zu dieser Erzählung bildet. Vgl. „Leben des Buddha“, S. 45-50.

[2] Also als ein Dämon.

[3] Dies sind

[4] Die vier Geburtsarten sind

[5] Nämlich die Wiedergeburt

[6] Diese Stelle ist wörtlich dem oben angeführten 12. Sutta des Majjhima-Nikaya entnommen.

[7] Über die Ajivika-Mönche, die nackten Asketen, vgl. Jataka 49 Anm. 1. [Die nackten Asketen, pali „ajivaka“, waren zu Buddhas Zeit eine in Indien weitverbreitete Sekte. Auch der strengere Teil der Jainas geht nackt. Es ist wohl nicht zufällig, dass diese nackten Asketen in den buddhistischen Erzählungen meist eine ungünstige Rolle spielen.]

[8] Damit ist die Zeit der Wintersonnenwende gemeint.


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