Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten

38. Die Erzählung vom Kranich (Baka-Jataka)

„Nicht immer bringt, wer Trug ersinnt“

 

§A. Dies erzählte der Meister, da er im Jetavana verweilte, mit Beziehung auf einen Kleider verfertigenden Mönch. Ein Mönch nämlich, der im Jetavana wohnte, war in allen Arbeiten, die für die Kleidung auszuführen sind, im Zerschneiden, Zusammenfügen, auf den Wert Prüfen [1], Nähen usw. sehr geschickt. Mit dieser seiner Geschicklichkeit verfertigte er Kleider; deshalb wurde er nur „der Kleiderverfertiger“ genannt. Was tat er aber? Er zeigte an alten Lappen seine Kunst und machte daraus ein weiches, hübsches Kleid; dann färbte er es, bestrich es mit Mehlwasser, kratzte es mit einer Muschel ab und legte es hin, nachdem er es glänzend und schön gemacht hatte. —

Nun kamen die Mönche, die das Verfertigen von Gewändern nicht verstanden, mit neuen Stoffen zu diesem hin und sprachen: „Wir verstehen es nicht, ein Gewand zu verfertigen; macht uns ein Kleid und gebt es uns!“ Er aber erwiderte: „Lieber, um ein Gewand zu verfertigen, braucht man lange Zeit. Ich habe gerade ein Gewand vollendet; nehmt es, lasst diese Stoffe dafür da und geht.“ Und er zog es heraus und zeigte es ihnen. Da sie nun nur dessen äußeres Aussehen gewahrten und das Innere nicht kannten, dachten sie, es sei dauerhaft, und nahmen es mit sich, nachdem sie dem Kleiderverfertiger ihre neuen Stoffe dafür gegeben hatten. Wenn dann ihr Gewand etwas schmutzig war und mit heissem Wasser gerieben wurde, dann zeigte es seine wahre Beschaffenheit und da und dort waren Spuren des Alters zu erkennen. Und es erfasste sie Reue. So wurde allmählich überall bekannt, dass der Mönch alle, die zu ihm kamen, mit den Lappengewändern betrog.

Wie nun dieser im Jetavana, so betrog in einem Dorfe ein Kleiderverfertiger ebenfalls die Leute. Ihm erzählten seine Gefährten: „Freund, im Jetavana betrügt ein Kleiderverfertiger so die Leute.“ Da kam ihm folgender Gedanke: „Halt, ich will den Stadtbewohner betrügen.“ Und er verfertigte ein sehr hübsches Obergewand aus Lappen, färbte es schön rot und begab sich, mit diesem angetan, nach dem Jetavana. Als ihn der andere sah, regte sich in ihm die Begierde und er fragte: „Herr, habt Ihr dies Gewand verfertigt?“ Er antwortete: „Ja, Lieber.“ Der andere fuhr fort: „Herr, gebt mir dies Gewand; Ihr werdet ein anderes bekommen.“ Doch jener versetzte: „Freund, wir Dorfbewohner bekommen schwer etwas; wenn ich dir dies Gewand gebe, was soll ich dann anziehen?“ Darauf sprach der andere: „Herr, ich habe neue Stoffe; nehmt diese und macht Euch daraus ein Gewand.“ Der erste erwiderte: „Freund, ich habe hieran meiner Hände Arbeit gezeigt; wenn du so sprichst, was kann man da tun? Nimm es!“ Und er gab ihm sein Lappengewand und nahm dafür die neuen Stoffe mit. Nachdem er ihn so überlistet hatte, ging er weg. Der Jetavana-Bewohner zog das Gewand an; als er es aber nach einigen Tagen mit heißem Wasser rieb, sah er, dass es aus alten Lappen bestand, und schämte sich. Dass er aber betrogen war, wurde unter der Mönchsgemeinde bekannt und man sagte: „Von dem Dorfkleiderverfertiger ist der Jetavana-Bewohner überlistet worden.“

Nun saßen eines Tages die Mönche in der Lehrhalle und erzählten diese Geschichte. Da kam der Meister und fragte: „Zu welcher Erzählung, ihr Mönche, habt ihr euch jetzt hier niedergelassen?“ Und sie meldeten ihm die Begebenheit. Darauf sprach der Meister: „Nicht nur jetzt, o Mönche, betrügt der im Jetavana wohnende Kleiderverfertiger die anderen, sondern auch schon früher einmal betrog er sie; und nicht nur jetzt wurde von dem Dorfbewohner der im Jetavana wohnende Kleiderverfertiger betrogen, sondern auch schon früher wurde er betrogen.“ Und nach diesen Worten erzählte er folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

 

§B. Ehedem war der Bodhisattva in einer Waldgegend in einem bei einem Lotosteiche stehenden Baume als Baumgottheit [2] wiedergeboren. Damals nun wurde in einem anderen, nicht sehr großen Teiche in der heißen Zeit das Wasser wenig und viele Fische weilten darin. Da sah ein Kranich die Fische und dachte: „Durch ein Mittel werde ich diese Fische überlisten und auffressen.“ Und er ging hin und setzte sich an dem Rand des Wassers nachdenklich nieder. Als ihn die Fische sahen, fragten sie: „Was sitzest du so nachdenklich da, Edler?“ Er antwortete: „Ich denke über euch nach.“ „Was denkst du denn über uns nach, Edler?“ Er erwiderte: „In diesem Teiche ist spärliches Wasser, das Futter tut wenig und die Hitze ist groß; und ich sitze nun da, indem ich nachdenke, was ihr Fische jetzt tun werdet.“ „Aber was sollen wir tun, Edler?“ „Wenn Ihr nach meinen Worten tut, würde ich euch einen nach dem anderen mit der Spitze meines Schnabels packen, nach dem mit fünffarbigen Lotosblüten bedeckten großen Teich bringen und dort absetzen.“ Da sagten die Fische: „Edler, seit dem ersten Weltalter gibt es keinen Kranich, der um die Fische bekümmert ist; du willst uns einen nach dem anderen auffressen.“ Der Kranich erwiderte: „Wenn ihr mir vertraut, werde ich euch nicht auffressen; wenn ihr mir aber nicht glaubt, dass es diesen Teich gibt, so gebt mir einen Fisch mit, damit er den Teich sehe.“ Da glaubten ihm die Fische und gaben ihm einen großen Fisch mit, der einäugig war, in der Meinung, dieser sei zu Wasser wie zu Lande zu brauchen; und sie sprachen: „Nehmt diesen mit und geht!“ Er nahm ihn mit, brachte ihn an den Teich, ließ ihn dort los und zeigte ihm den ganzen Teich; dann brachte er ihn zurück und ließ ihn bei den Fischen nieder. Der Fisch aber schilderte seinen Genossen die Schönheit des Teiches.

Als sie seinen Bericht vernommen hatten, bekamen sie Lust zum Weggehen und sie sagten zum Kranich: „Gut, Edler, nimm uns mit und gehe dorthin!“ Da nahm der Kranich zuerst den einäugigen großen Fisch, brachte ihn nach dem Ufer des Teiches und zeigte ihm den Teich; dann aber ließ er sich an einem Varana-Baume [3] nieder, der am Ufer des Teiches wuchs, warf den Fisch in ein Gestrüpp, stieß ihn mit seinem Schnabel, bis er starb, verzehrte sein Fleisch und warf die Gräten an den Fuß des Baumes. Dann kam er zurück und sprach: „Ich habe den Fisch schon abgesetzt, ein anderer soll kommen.“ Auf diese Weise nahm er einen nach dem anderen und verzehrte alle Fische.

Als er wieder kam, sah er keinen einzigen Fisch mehr; nur ein Krebs war noch übrig. Da der Kranich auch diesen noch auffressen wollte, sagte er: „He, Krebs, ich habe alle Fische mitgenommen und in einem mit Lotos bedeckten großen Teiche niedergesetzt; komm, ich will dich auch hinbringen.“ Der Krebs erwiderte: „Wenn du mich mitnehmen willst, wie wirst du mich dann fassen?“ Der Kranich sagte: „Mit dem Schnabel werde ich dich fassen.“ Da versetzte der Krebs: „Wenn du mich so packst, wirst du mich fallen lassen; ich werde nicht mit dir gehen.“ Doch der Kranich sprach: „Fürchte dich nicht, ich werde dich fest fassen und mitnehmen.“ Da dachte der Krebs: „Dieser hat natürlich nicht die Fische in den Teich gebracht und dort abgesetzt. Wenn er mich nun an dem Teiche absetzen wird, so ist es gut; wenn er mich aber nicht absetzt, werde ich seinen Hals durchschneiden und ihn so töten.“ Und er sprach zu ihm: „Lieber Kranich, du wirst nicht im Stande sein, mich fest zu packen. Wir können aber fest packen; wenn ich daher mit meiner Schere deinen Hals fassen darf, werde ich deinen Hals fest packen und so mit dir gehen.“ Da nun der Kranich nicht merkte, dass jener ihn überlisten wolle, war er einverstanden, indem er sagte: „Es ist gut.“ — Der Krebs packte mit seinen Scheren dessen Hals so fest wie mit Schmiedezangen und sprach dann: „Gehe jetzt!“

Der Kranich brachte ihn nach dem Teiche, zeigte ihm denselben und ging dann nach dem Varana-Baume zu. Da sprach der Krebs: „Onkel, hier ist ja der Teich; du bringst mich aber wieder von da weg.“ Der Kranich versetzte: „Ein lieber Onkel bin ich und ein guter Neffe bist du. Du hast dir eingebildet, ich werde dich forttragen und dein Sklave sein. Sieh hier am Fuße des Baumes diese Menge Gräten; ebenso wie ich alle diese Fische verzehrt habe, werde ich dich dort auch verzehren.“ Da sprach der Krebs: „Diese Fische sind infolge ihrer Torheit von dir aufgefressen worden. Ich aber werde mich von dir nicht auffressen lassen, sondern werde dich selbst ins Verderben stürzen. Infolge deiner Torheit merkst du nicht, dass ich dich überlistet habe. Wenn wir sterben, werden wir beide sterben; ich werde dir jetzt den Kopf abschneiden und auf die Erde werfen.“ Und er drückte dessen Hals mit seinen Scheren wie mit Schmiedezangen zusammen. Da sagte der Kranich, den Mund weit geöffnet, die Augen voll Tränen, von Todesfurcht erfasst: „Herr, ich werde dich nicht auffressen; schenke mir das Leben.“ „Wenn du dies willst, so steige hinab und setze mich im Teiche nieder“, erwiderte der Krebs. Der andere kehrte um, stieg nach dem Teiche hinab und legte ihn am Rande des Teiches auf den Schlamm nieder. Der Krebs aber durchschnitt seinen Hals, wie man mit einer Schere einen Lotosstängel durchschneidet, und begab sich dann ins Wasser. —

Als die Gottheit, die in dem Varana-Baume wohnte, diese wunderbare Begebenheit wahrnahm, gab sie ihre Zustimmung zu erkennen und sprach, den Wald mit ihrer süßen Stimme erfüllend, folgende Verse:

§1. „Nicht immer bringt, wer Trug ersinnt,

durch seinen Trug es zum Erfolg;

gar oft erhält, wer Trug ersinnt,

was einst der Krebs dem Kranich gab [4].“

 

§C. Nachdem der Meister mit den Worten: „Nicht nur jetzt, ihr Mönche, ist dieser von dem im Dorfe wohnenden Kleiderverfertiger überlistet worden, sondern auch schon in früherer Zeit wurde er überlistet“, diese Lehrunterweisung beschlossen hatte, stellte er die gegenseitigen Beziehungen fest und verband das Jataka mit folgenden Worten: „Damals war der Kranich der im Jetavana wohnende Kleiderverfertiger, der Krebs war der im Dorfe wohnende Kleiderverfertiger; die Baumgottheit aber war ich.“

Ende der Erzählung vom Kranich


[1] Nämlich, ob die gefundenen oder geschenkten Stoffreste noch gut genug seien, um verarbeitet zu werden.

[2] Diese an eine bestimmte Örtlichkeit auf der Erde gebundenen Gottheiten bildeten die niedrigste Klasse der Götter.

[3] Dies ist der Baum Crataeva roxburghii, aus der Familie der Capparidaceen.

[4] Über die weite Verbreitung dieser Fabel vgl. Rhys Davids „Buddhist Birth Stories“, S. 321.


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