Jātakam, Wiedergeburtsgeschichten

16. Die Erzählung von der Gazelle in den drei Lagen (Tipallatthamiga-Jataka)

„Mit mancher List in jeder der drei Lagen“

 

§A. Dies erzählte der Meister, da er zu Kosambi im Badarika-Parke verweilte, mit Beziehung auf den die Mönchsregel liebenden Thera Rahula. Als zu der Zeit der Meister bei der Stadt Alavi am Aggalava-Monument sich aufhielt, kamen viele Laienschwestern und Nonnen nach dem Kloster, um die Lehre zu hören. Das Anhören der Lehre war bei Tage; als aber die Zeit kam, kamen die Laienschwestern und die Nonnen nicht, sondern nur die Mönche und die Laienbrüder waren da. Von da an geschah das Anhören der Lehre bei Nacht. Am Ende des Anhörens der Lehre gingen die älteren Mönche nach ihren Wohnungen. Die Jungen schliefen mit den Laienbrüdern zusammen in der Wartehalle. Als sie dort in Schlaf gefallen waren, lagen einige da gurgelnd und schwatzend und mit den Zähnen knirschend [1]; einige aber standen wieder auf, nachdem sie nur einen Augenblick geschlafen hatten. Als sie diese Veränderung gewahrten, teilten sie es dem Erhabenen mit. Der Erhabene sprach: „Welcher Mönch mit einem Nichtgeweihten zusammen schläft, ist der Sühne schuldig [2]“. Nachdem er so eine Mönchsregel verkündigt hatte, ging er nach Kosambi.

Da sprachen die Mönche zu dem ehrwürdigen Rahula [3]: „Lieber Rahula, von dem Erhabenen wurde eine Mönchsregel verkündigt; suche dir jetzt einen Wohnort“. Vorher nahmen ihn die Mönche aus Ehrfurcht vor dem Erhabenen und wegen der Freude dieses Ehrwürdigen an der Beobachtung der Regeln gerne auf, wenn er in ihre Wohnung kam, richteten ein kleines Lager her und gaben ihm ein Gewand als Kissen; an diesem Tage aber gaben sie ihm keine Wohnung aus Furcht vor der Mönchsregel. Der edle Rahula ging nicht zu dem Erhabenen, denn er dachte: „Es ist mein Vater“, oder zu dem Heerführer der Lehre [4], denn er dachte: „Es ist mein Meister“, oder zu dem großen Mogallana, denn er dachte: „Es ist mein Lehrer“, oder zu dem Thera Ananda, denn er dachte: „Es ist mein Onkel [5]“; sondern er ging in den für den Gebrauch des Erhabenen bestimmten Abort hinein, wie wenn er die Brahmawohnung beträte, und nahm dort seinen Aufenthalt. An dem für die Buddhas bestimmten Abort aber ist die Tür wohlverschlossen, rings mit Wohlgeruch besprengt ist der Boden, wohlriechende Girlanden und Kranzgirlanden sind gestreut, die ganze Nacht brennt eine Lampe. Der edle Rahula aber nahm in diesem Abort nicht wegen dieser Pracht seinen Aufenthalt; sondern weil die Mönche gesagt hatten: „Suche dir einen Aufenthaltsort“, aus Ehrfurcht vor dem Gebot, aus der Freude an der Beobachtung der Mönchsregeln nahm er dort seinen Aufenthalt.

Manchmal [6], wenn die Mönche den Ehrwürdigen von weitem kommen sahen, warfen sie, um ihn auf die Probe zu stellen, einen Handbesen oder einen Haufen Schmutz heraus; und wenn er kam, fragten sie: „Lieber, wer hat dies hingeworfen?“ Wenn dann einige sagten: „Rahula ist auf diesem Wege gegangen“, so antwortete er nicht: „Herr, ich weiß nichts davon“, sondern er räumte es beiseite und ging dann weg, nachdem er mit den Worten: „Verzeiht mir, Herr“, um Verzeihung gebeten hatte. Solche Freude hatte er am Befolgen der Mönchsregeln; und wegen dieser Freude an der Befolgung der Mönchsregeln nahm er dort seinen Aufenthalt. —

Da trat der Meister vor Tagesanbruch an die Türe des Aborts und räusperte sich; der Ehrwürdige aber räusperte sich auch. „Wer ist da?“, fragte Buddha. „Ich, Rahula“, erwiderte jener, kam heraus und verehrte ihn. Darauf fragte Buddha weiter: „Warum, Rahula, hast du dich hier niedergelegt?“ Rahula antwortete: „Weil ich keine Wohnung hatte. Früher nämlich, Herr, nahmen mich die Mönche auf; jetzt aber geben sie mir aus Furcht zu sündigen kein Obdach mehr. Weil ich nun dachte: ‘An diesem Ort wird von anderen nicht angeklopft’, deshalb habe ich mich hier niedergelegt.“ Da dachte der Erhabene: „Wenn die Mönche den Rahula so von sich stoßen, was werden sie dann erst mit den anderen jungen Leuten von Familie machen, wenn sie sie zu Mönchen gemacht haben?“ Und er wurde aufgeregt wegen der Lehre. Darauf ließ er in der Frühe die Mönche zusammenrufen und fragte den Heerführer der Lehre: „Weißt du, Sariputta, wo Rahula heute gewohnt hat?“ Er antwortete: „Ich weiß es nicht, Herr.“ „Sariputta“, fuhr Buddha fort, „heute hat Rahula im Abort gewohnt. Wenn ihr, Sariputta, den Rahula so von euch stoßt, was werdet ihr dann mit anderen jungen Leuten von Familie machen, wenn ihr sie zu Mönchen gemacht habt? Wenn dies so ist, so werden diejenigen, welche in dieser meiner Disziplin Mönche geworden sind, nicht fest bleiben. Von jetzt an sollt ihr einen noch nicht Geweihten einen oder zwei Tage bei euch wohnen lassen und am dritten Tage einen Wohnort für ihn ausfindig machen und ihn außerhalb wohnen lassen.“ Mit diesen Worten gab er eine nachträgliche Bestimmung und verkündete so die Mönchsregel.

Zu der Zeit hatten sich die Mönche in der Lehrhalle niedergesetzt und erzählten von der Tugend des Rahula: „Seht, Freunde, welche Liebe fürwahr dieser Rahula zur Befolgung der Mönchsregel hat. Als man ihm sagte: ‘Suche dir einen Aufenthaltsort’, wies er auch nicht einen Mönch zurück mit den Worten: ‘Ich bin der Sohn des Erhabenen; was geht euch die Wohnung an? Geht ihr hinaus!’, sondern er nahm Wohnung im Abort.“ Als sie so sprachen, kam der Meister in die Lehrhalle, ließ sich auf seinen geschmückten Sitz nieder und fragte: „Zu welcher Unterhaltung habt ihr euch jetzt hier niedergelassen, ihr Mönche?“ Sie antworteten: „Herr, zur Unterhaltung von der Tugend des Rahula, nicht zu einer anderen Unterhaltung.“ Darauf sprach der Meister: „Nicht nur jetzt, o Mönche, hat Rahula soviel Liebe zur Befolgung der Mönchsregel, sondern auch schon früher, als er in einem Tierleib seine Wiedergeburt nahm, war er so begierig nach der Befolgung der Regel.“ Und er erzählte folgende Begebenheit aus der Vergangenheit.

 

§B. Ehedem herrschte zu Rajagaha ein König von Magadha. Damals hatte der Bodhisattva als eine Gazelle seine Wiedergeburt genommen und weilte im Walde, umgeben von einer Gazellenherde. Da brachte ihm seine Schwester ihr Söhnchen und sagte: „Bruder, lehre diesen deinen Neffen die Gazellenlisten.“ Der Bodhisattva willigte ein mit dem Worte: „Gut“, und sprach: „Gehe, Lieber, zu der und der Zeit komme und lerne sie.“ Dieser versäumte nicht die von seinem Onkel angegebene Zeit, sondern kam zu ihm und lernte die Gazellenlisten.

Als er nun eines Tages im Walde wandelte, fing er sich in einer Schlinge und stieß das Schlingengeschrei [7] aus. Die Gazellenherde lief fort und teilte seiner Mutter mit: „Dein Sohn hat sich in einer Schlinge gefangen.“ Darauf ging sie zu ihrem Bruder hin und fragte: „Bruder, hat dein Neffe die Gazellenlisten erlernt?“ Der Bodhisattva sagte: „Fürchte nichts Böses für deinen Sohn, wohl erfasst hat er die Gazellenlisten; fröhlich wird er jetzt zurückkommen.“ Und er sprach folgende Strophe:

§1. „Mit mancher List in jeder der drei Lagen,
achthufig, nicht nach Mitternacht mehr trinkend,
durch ein Organ zur Erde hin nur atmend
befreit sich durch sechs Künste [8] wohl mein Neffe.“

Indem der Bodhisattva so zeigte, dass sein Neffe die Gazellenlisten gut erfasst habe, tröstete er seine Schwester. —

Als sich aber die junge Gazelle in der Schlinge gefangen hatte, rührte sie sich nicht, sondern sie streckte die Füße aus und legte sich auf die Seite in ganzer Länge; da wo ihre Füße lagen, scharrte sie mit ihren Hufen Staub und Gräser zusammen, gab Kot und Urin von sich, ließ ihren Kopf herabhängen, streckte die Zunge heraus und befeuchtete ihren Körper mit Speichel, zog den Wind ein und brachte damit ihren Leib zum Aufschwellen, verdrehte die Augen, zog nur mit dem unteren Nasenloch Luft ein und hielt vom obern Nasenloch die Luft zurück, machte ihren ganzen Körper steif und stellte sich tot. Blaue Fliegen umschwärmten sie. Da und dort ließen sich Krähen nieder. Als der Jäger kam, stieß er die Lanze an ihren Leib und dachte: „Sie wird sich schon in der Frühe gefangen haben, sie ist stinkend geworden.“ Dann löste er ihre Fesselschlinge; und weil er sie ausweiden und mit ihrem Fleische fortgehen wollte, begann er in seiner Sorglosigkeit, Zweige und Blätter zu sammeln, um ein Feuer anzuzünden. Da erhob sich die junge Gazelle, stellte sich auf ihre vier Füße, schüttelte sich, streckte den Hals aus und lief so schnell wie eine Wolke, die ein großer Wind zerreißt, zu ihrer Mutter.

 

§C. Nachdem der Meister mit den Worten: „Nicht nur jetzt, ihr Mönche, ist Rahula so bedacht auf die Befolgung der Regel, sondern auch schon früher war er es“, diese Belehrung beendigt hatte, stellte er die gegenseitigen Beziehungen klar und verband das Jataka mit folgenden Worten: „Damals war der junge Gazellenneffe Rahula, seine Mutter war Uppalavanna, der Gazellenonkel aber war ich.“

Ende der Erzählung von der Gazelle in den drei Lagen


[1] Vgl. die ähnliche Stelle im „Leben des Buddha“, S. 23.

[2] Es gab 92 Vergehen, die der Mönch durch Bekenntnis vor der Mönchsgemeinde zu sühnen hatte. Sie sind im Vinaya-Pitaka zusammengestellt.

[3] Rahula, der Sohn Buddhas, ist hier noch als Novize gedacht.

[4] Dies ist ein Beiname des Sāriputta, des hervorragendsten Jüngers Buddhas.

[5] Ananda ist nicht ein Bruder Buddhas, sondern sein Vetter.

[6] Die folgende Bemerkung gehört nicht zur Erzählung, sondern dient nur zur Erläuterung der Genauigkeit Rahulas bei der Beobachtung der Regel.

[7] D. h. das Geschrei, das die Gazellen auszustoßen pflegen, wenn sie sich in einer Schlinge gefangen haben.

[8] Nämlich durch die vorher angeführten, die drei Lagen als drei gerechnet.


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