WIRKLICHKEIT UND ERLÖSUNG

I.5. DIE WIEDERGEBURT

 

Wir kennen das Gesetz, das wie kaum ein zweites allgemein gültig ist und das wir das Gesetz von der Erhaltung der Energie nennen. Diese Allgemeingültigkeit kennt keine Ausnahme und bezieht sich daher nicht nur auf alle physischen, sondern ebensosehr auch auf die psychischen Prozesse, die ja ebenfalls nichts anderes als energetische Vorgänge sind. So sagt auch C. G. JUNG in seinem Buche „Seelenprobleme der Gegenwart".

„Für jedes bedeutsame Stück, das im Bewußtsein entwertet ist und daher zugrunde geht, erhebt sich auf der anderen Seite im Unbewußten eine Kompensation. Dies geschieht entsprechend dem Grundgesetz der Erhaltung der Energie, denn auch unsere psychischen Vorgänge sind energetische Prozesse. Kein seelischer Wert kann verschwinden, ohne durch ein Equivalent ersetzt zu werden."

Was diese Tatsache wirklich bedeutet, wird von uns im westlichen Denken erzogenen Menschen im allgemeinen viel zu wenig beachtet, sonst wäre es nicht möglich, daß bei uns dem Wiedergeburts-Gedanken so wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht, ja daß er fast gänzlich ignoriert wird. Der tausendjährige Einfluß des Christentums, das wohl ein Weiterleben der „Seele" nach dem Tode kennt, dem aber sowohl die Geburt wie der Tod durchaus einmalige Vorgänge im Dasein des Individuums sind, mag hier von entscheidender Bedeutung sein.

 

Die Wiedergeburt, von der hier die Rede ist, hat nichts zu tun mit jenen Gedanken, die z. B. FRIEDRICH NIETZSCHE in seinen Aphorismen über die ewige Wiederkunft des Gleichen entwickelt hat. Sie hat auch nichts zu tun mit der Metempsychose oder Seelenwanderung, die schon bei den alten Indern und Ägyptern, wie auch in der griechischen Philosophie usw. gelehrt wurde und wie sie heute noch, auf Grund animistischer Vorstellungen, speziell bei östlichen Religionen zu finden ist. Was wir über die Wiedergeburt vorbringen, ist keine „Lehre" die auf Offenbarungen zurückgeht und die nun hier als ein enthülltes Geheimnis zur Kenntnis gebracht wird, sondern es ist einfach die logische Konsequenz, die sich aus unserer bisherigen Welt- und Inschau sozusagen von selber ergibt.

 

Wir wissen nichts von einer „Seele", wie sollten wir also von einer „Seelenwanderung" sprechen können, oder von „Seelen", die in diesen oder jenen Körpern wiedergeboren werden? So etwas liegt uns auch durchaus ferne, aber es scheint, als wäre es unmöglich, hier ohne den Seelen-Begriff oder den des Wesenhaften auszukommen und den Gedanken der Wiedergeburt ohne die Vorstellung eines „Bleibenden" zu denken, doch ist eine solche Vorstellung tatsächlich unnötig, da ja in Wirklichkeit die Wiedergeburt nichts anderes ist als die Fortsetzung eines anfangslosen Prozesses, in dem ein „Bleibendes" nicht gefunden werden kann.

 

Wenn wir das Leben eines einzelnen Individuums als einen bestimmten Lebensvorgang auffassen, so werden wir vergeblich nach einem ersten, absoluten Anfang dieses Lebensprozesses Ausschau halten. Nur infolge kausaler Bedingtheiten, infolge ganz bestimmter Ursachen und Gegebenheiten kann ein Lebensvorgang entstehen, und in seinem Vergehen wurzeln wiederum Dinge und Geschehnisse, denen im einzelnen nachzuspüren wir nicht ohne weiteres in der Lage sind. Wir wissen nur ganz allgemein, sozusagen a priori, daß aus Nichts nicht ein Etwas entstehen, und daß aus dem Etwas sich nicht ein Nichts ergeben kann.

 

„Alles fließt" sagte einst der Grieche HERAKLIT, der wegen seines Tiefsinns „der Dunkle" genannt wurde, und dieses Fließen tritt nirgends deutlicher zutage als im Lebensvorgang, ganz gleich ob er einen Menschen, ein Tier oder eine Pflanze manifestiert. Nie und nirgends ist in diesem Vorgang ein Stillstand zu erkennen, nirgends ein fester Punkt, nirgends ein wirklich Bleibendes. Alles wandelt und verändert sich unaufhaltsam. Der Jugend folgt die Reife, und der Reife das Verblühen und Altern. Dem Leben folgt der Tod, wie sollte da dem Tode nicht das Leben folgen? Das eine bedingt das andere, das eine ist vom anderen abhängig.

 

Was uns beim einzelnen Individuum zu erkennen schwer fällt, das erleichtert uns die Betrachtung der Generationen. Die jetzige Generation hat ihre Wurzeln in der voraus gegangenen und die zukünftige wurzelt in der gegenwärtigen, darüber gibt es ja keinerlei Zweifel, und so dürfen wir wohl sagen, daß die eine Generation die andere bedingt, und zwar nicht nur körperlich, sondern im weitesten Sinne des Wortes auch geistig; wobei es uns gar nicht einfällt, nach einem „Wesenhaften" oder „Bleibenden" der Generation zu fragen. Was aber für ganze Generationen gilt, muß auch für den Einzelnen Gültigkeit haben, denn die Einzelnen sind es ja, aus denen sich die Generation zusammensetzt.

 

Im Sinne der Wirklichkeit verstehen wir also unter der Geburt eines Wesens nicht einen einzigen und einmaligen Vorgang, nicht ein absolutes und unwiederholbares Geschehen, sondern nur die eine Seite eines anfangslosen, bedingten und immer wiederkehrenden Vorganges, dessen andere Seite der Tod ist. Wie eine Tür sowohl Eingang wie Ausgang sein kann, so sind auch Geburt und Tod sowohl Eingang wie Ausgang, nur trennen sie nicht den einen Raum vom anderen, sondern das eine Leben vom anderen.

 

Zugegeben, wir haben keinen anderen unmittelbaren Beweis für diese Tatsache als das Gesetz von der Erhaltung der Energie, und die Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes läßt keine anderen Schlüsse zu als die Anfangs- und Endlosigkeit des Daseins der Individuen.

 

Jedes Wesen ist eine energetische Einheit mit bestimmten typischen Kennzeichen und Tendenzen. Jeder Mensch hat ein für ihn ganz spezifisches Gepräge, das an besten mit dem Ausdruck „Charakter" gekennzeichnet ist, und das in jedem einzelnen Falle verschieden ist von allen anderen. Wir beurteilen auch den Wert eines Menschen nach seinem Charakter, der so oder so sein kann. Wir schätzen, achten und verehren ihn, oder wir mißachten und verabscheuen ihn, oder wir betrachten ihn als nichtssagend und uninteressant, ganz nach seinem Charakter, in dem eben jenes gewisse Etwas liegt, das wir sachlich und anschaulich gar nicht fassen können, das aber doch stärkstes Erlebnis sein kann und als solches reine Wirklichkeit ist. Unter dem Begriff „Charakter" subsummieren wir die Gesamtheit der geistigen Tendenzen eines Menschen, seine psychischen und moralischen Gegebenheiten, seine Fähigkeiten und Möglichkeiten, und auch bei nur einigem Nachdenken erkennen wir ohne weiteres, daß diese Gesamtheit seiner psychisch-moralischen Tendenzen nicht von außen in ihn hineingetragen sein kann, da er sie ja nicht hat, sondern sie selber ist, daß sie ein von ihm selber Erworbenes und Gestaltetes sein muß, und daß sie als die Quintessenz des Lebensstromes, oder des Lebensprozesses, den Niederschlag seines anfangs- und endlosen Wirkens und Erlebens darstellt.

 

Wir können also auch hier sagen, daß das, was wir sind, einzig und allein das Ergebnis unseres Wirkens ist; daß wir also im wahrsten Sinne des Wortes als die Erben unserer Werke existieren. Was wir gestern und früher taten und nicht taten, das wirkt sich heute aus, und was wir heute tun und lassen, das wird sich morgen oder später auswirken, und so ist dieses kausale Abhängigsein des Späteren vom Früheren die Gegebenheit, aus der heraus sich die Tatsache der Wiedergeburt als ein zwangsläufiger Vorgang ergibt, ohne den wir gar nicht das sein könnten, was wir sind, ja, ohne den wir überhaupt nicht wären.

 

Als konkrete Beispiele mögen uns einige besonders auffällige Erscheinungen dienen.

WOLFGANG AMADEUS MOZART war noch kaum sechs Jahre alt, als er auf Kunstreisen in Wien, Paris, London, München, in Holland und in der Schweiz durch sein geniales Spiel Bewunderung erregte. Im Knabenalter wurde er als Klavier-, Orgel- und Violinspieler, sowie als Komponist bewundert, und was er später an Meisterwerken geschaffen hat, ist zeitlose und immer wieder beglückende Kunst. Man denke: ein Kind noch, und schon ein Meister; ein Kind noch, und schon mit allen Attributen eines großen Künstlers ausgestattet; ein Kind noch, und schon ein genialer Geist, der überall, wo er sich zeigte, Bewunderung und Staunen erregte.

 

Liegt es da nicht nahe, nach den Wurzeln eines solch außerordentlichen Könnens zu fragen, nach dem Ursprung dieser schon im Kindesalter entfalteten Künstler-Persönlichkeit, nach den Vorbedingungen eines derartigen Phänomens? Gewiß, aber wer da glaubt, mit dem leeren Begriff „Zufall" etwas erklären zu können, oder mit dem Hinweis auf die Eltern und das von ihnen überkommene Erbgut, der irrt sich, denn der Begriff „Zufall" erklärt überhaupt nichts und das sogenannte Erbgut müßte doch auch bei den Eltern vorhanden gewesen sein, aber es war da nichts zu finden, was dem Genie ihres Sohnes entsprochen hätte. Es gibt hier nur eine plausible Erklärung, nur eine Möglichkeit, und die besteht darin, daß diese Genialität schon in einem früheren Dasein erwirkt war und nun in der neuen Existenz außerordentlich frühzeitig zum Durchbruch kam. Wir müssen in diesem Falle aus der Tatsächlichkeit des vorhandenen Genies, das nicht in diesem Leben erworben sein kann, auf ein diesbezügliches vorgeburtliches Wirken schließen, wenn wir nicht zugeben wollen, daß die Natur Sprünge macht. „Natura non facit saltus" - hieß es schon bei den alten Römern.

 

Ähnlich liegen die Verhältnisse bei L. v. BEETHOVEN, der bereits in seinem siebten Lebensjahr öffentliche Konzerte gab; oder bei VOLTAIRE, der schon in seinem dritten Lebensjahr die Fabeln FONTAINES las; oder in neuester Zeit bei dem Wunderkind PIERINO GAMBA das überall in Europa große Konzerte dirigiert.

 

Immer wieder gibt es Menschen, die, ohne einen sichtbaren äußeren Grund, plötzlich Fähigkeiten entwickeln, die sie während ihres derzeitigen Lebens nicht erworben haben, und die nur mit dem Hinweis auf ein vorgeburtliches Wirken zu erklären sind.

 

Wer mit Kindern zu tun hat und sie mit offenen Augen betrachtet, der kann, besonders während der ersten acht Jahre ihres Lebens, Dinge beobachten, die ohne vorgeburtliches Wirken einfach nicht möglich wären. Mit Staunen sehen wir Anlagen und Charaktereigenschaften, die weder beim Vater noch bei der Mutter zu finden sind; wir entdecken Abneigungen und Sympathien, die mit den gewöhnlichen Vererbungsgesetzen nicht in Einklang zu bringen sind; wir erkennen psychische Zustände, denen im soeben gelebten Leben alle Voraussetzungen fehlen, und wir stellen charakterliche Tendenzen fest, die aus dem Bekannten nicht herzuleiten sind. Ja, wir können am Kinde gewisse Rückerinnerungsfähigkeiten, die in vorgeburtliches Wirken reichen, deutlich beobachten, und wenn wir all diesen Dingen mehr Aufmerksamkeit schenken würden als es gewöhnlich geschieht, würde uns mit der Zeit der Gedanke der menschlichen Wiedergeburt geradezu als selbstverständlich erscheinen; wie er in der östlichen Welt selbstverständlich ist.


Ein sehr angesehener buddhistischer Gelehrter berichtete dem Verfasser vor einigen Jahren aus Indien über einen interessanten Fall kindlicher Rückerinnerung. Er führte folgendes aus: So ereignete sich in Delhi vor wenigen Jahren ein Fall, der in ganz Indien großes Aufsehen erregte und mir wegen seiner gut beglaubigten Details aufschreibenswert erschien. Es handelte sich um ein kleines Mädchen, namens Shanti Devi, die mit ihren Eltern in Delhi lebte. Kaum daß sie zu sprechen gelernt hatte, begann sie von Dingen zu erzählen, die sie in einer Stadt namens Muttra erlebt oder gesehen haben wollte und behauptete, in dieser Stadt früher gelebt zu haben. Als sie fünf Jahre alt war, bat sie ihre Eltern, mit ihr nach Muttra zu reisen. Sie beschrieb die Wohnung, in der sie dort früher gelebt hatte, konnte sogar genau die Straße und das Haus angeben und erinnerte sich an den Namen ihres Mannes und an ihren Sohn, der zehn Tage nach seiner Geburt starb. Mr. Kishan Chand, ein pensionierter Schuldirektor aus den Vereinigten Provinzen und ein Freund von Rang Bahadur Mathur, dem Vater des Kindes, begann sich für den Fall zu interessieren und Nachforschungen anzustellen, die die Wahrheit von Shantis Angaben erwiesen. Es stellte sich heraus, daß Shantis früherer Ehemann, Pandit Kedar Nath Chaubey, noch in Muttra lebte, und bald nach dem Verlust seiner ersten Frau, die kurz nach der Geburt eines Sohnes starb, von neuem geheiratet hatte. Nach einer Unterredung in Muttra kam Chaubey am 13. November 1935 mit seiner zweiten Frau und Sohn nach Delhi, um Shanti zu sehen und durch intime Fragen herauszufinden, ob sie wirklich die Wiederverkörperung seiner verstorbenen Frau sei. Man sagte Shanti nichts von seiner Ankunft, sobald sie jedoch den Raum betrat, in dem alle Beteiligten versammelt waren, erkannte sie Chaubey als ihren Gatten und den zehnjährigen Knaben als ihren Sohn. Sie war so überwältigt von dem Wiedersehen, daß sie in Tränen ausbrach und sich lange nicht beruhigen konnte. Alle an sie gestellten Fragen beantwortete sie in der überzeugendsten Weise und erstaunte alle Anwesenden durch die Genauigkeit und Richtigkeit ihrer Angaben. Sie erbrachte weitere Beweise, als man sie mit nach Muttra nahm. Sie war augenscheinlich ganz vertraut mit der Stadt, und trotz einiger Neuerungen, die sie sogleich bemerkte, hatte sie keine Schwierigkeiten, den Weg zu ihrem früheren Haus zu finden. Indem man ihren Angaben folgte, fand man den Platz, an dem sie ihr Geld zu verstecken pflegte und auch einen Brunnen im Garten, der mittlerweile mit einer Steinplatte zugedeckt worden und den Blicken entzogen war. Sie war tief ergriffen, als sie ihre früheren Eltern und sogar ihren Schwiegervater, einen alten Brahmanen, wiedererkannte.

Alle diese Einzelheiten sind durch zahlreiche Zeugen erhärtet und durch ein Komitee, das sich die Aufgabe stellte, alle Angaben zu prüfen, und den Fall mit wissenschaftlicher Methodik zu untersuchen, bestätigt.“


 

 

 

Im späteren Kindesalter verschwinden die Rückerinnerungen mehr und mehr; sie treten sozusagen zurück in das Reich des Unbewußten und machen den neuen Erfahrungen und Erlebnissen Platz. Es mag sein, daß hie und da noch eine Spur davon aufflackert, daß man als Erwachsener bei einer Begegnung plötzlich das Gefühl hat, einem Menschen gegenüberzustehen, den man schon lange kennt, trotzdem man ihn noch nie gesehen und von ihm noch nie etwas gehört hat. Wir schenken diesem Gefühl aber wenig Beachtung, weil wir es meistens nicht zu erklären vermögen.

 

Es ist also nicht so abwegig, wenn sich die Tibeter nach dem Tode ihres DALAI LAMA, und nach Ablauf einer gewissen Zeit, auf die Suche nach seiner Wiedergeburt begeben und nicht nachlassen, bis sie dieselbe gefunden haben.

 

Wir werden im täglichen Leben von unzähligen Eindrücken in Anspruch genommen, und sowohl das Auge wie das Ohr, die Nase wie die Zunge, die Tastorgane wie das Denkorgan kommen nicht zur Ruhe, werden ununterbrochen angeregt und sind vollauf beschäftigt. Diese Vollbeschäftigung verhindert aber jene Ruhe und Geschlossenheit des Denkens, die es ermöglichen würden, die Erinnerung auf immer entferntere Dinge zu lenken. Es steht ja nirgends geschrieben, daß es für das Erinnerungsvermögen eine absolute Grenze gibt. Auch Tod und Geburt stellen keine solche Grenze dar, was, wie vorhin erwähnt, gerade bei Kindern beobachtet werden kann, und deshalb liegt es ausschließlich beim Konzentrations-Vermögen, wie weit der Bereich der Rückerinnerung ausgedehnt werden kann. Theoretisch steht einem Rückblick auf das vorgeburtliche Leben und auf noch frühere Wiedergeburten nichts im Wege, wohl aber stellen sich da praktisch mancherlei Hindernisse in den Weg. In allererster Linie macht sich hier der Mangel an methodisch entwickeltem Konzentrationsvermögen bemerkbar; dann fehlt es meistens an der nötigen Zeit und der unentbehrlichen äußeren und inneren Ruhe, und nicht zuletzt an der notwendigen Energie, die in diesem speziellen Falle von ausschlaggebender Bedeutung ist.

 

Wenn wir in einer stillen Nacht in die Natur hinaushorchen, so vernehmen wir Töne und Geräusche, die uns im Lärm des Tages völlig unhörbar bleiben; sei es das leise Rieseln eines Wassers, sei es das Flattern eines Vogels, sei es das Ächzen eines Baumes in schwachem Winde usw. Wir vernehmen dies alles nur deshalb, weil andere, stärkere Geräusche ausgeschaltet sind. Ähnlich ist es bei der Möglichkeit der Rückerinnerung. Je mehr sich das Denken auf Geschehnisse früherer Zeiten konzentrieren kann, je mehr sich das Denken allein auf die Tätigkeit des Erinnerns beschränkt und alle anderen Gedanken ausschaltet, desto weiter wird es zurückreichen, bis in die ersten Jahre der Kindheit und weiter noch, dem Lebensstrome folgend bis in frühere Wiedergeburten.

 

Die Intensität und Weite der Rückerinnerung ist sozusagen eine Sache des entsprechenden Trainings, das sehr viel Ausdauer und Energie erfordert, aber es gab und gibt, besonders in der östlichen Welt, viele Beispiele, die von der Tatsächlichkeit des Rückerinnerungsvermögens bis weit in vorgeburtliche Zeiten, Zeugnis ablegen.

 

Wie machen wir es, wenn wir uns an irgend etwas erinnern wollen, das wir schon lange vergessen haben? Wir denken angestrengt nach und nur wenn wir in dieser Anstrengung nicht nachlassen, werden wir Erfolg haben und uns der Sache oder des Vorganges erinnern, so daß das Gewünschte wieder klar und anschaulich vor Augen liegt. Daß ein solcher Erinnerungsprozeß mehr und mehr intensiviert werden kann, darüber gibt es keinerlei Zweifel, und er kann so intensiviert werden, daß für ihn auch Geburt und Tod keine Grenzen mehr sind. Wir werden darauf noch im Kapitel über die Meditation zurückkommen.

 

Eine organische Wesenheit kann weder physisch noch psychisch ins Dasein treten, ohne bestimmte Ursachen und Bedingungen, d. h. sie kann sich nur entwickeln aus einem vorausgegangenen, bedingenden Zustand, der in seinen Tendenzen dem neuen analog oder mindestens verwandt sein muß. Nehmen wir einen Menschen als den bestimmten Zustand eines Entwicklungs- oder Lebensprozesses an, so ist ohne weiteres gegeben, daß dieser Zustand einen vorausgegangenen zur Bedingung hat. Dieser bedingende Zustand ist aber weder im Vater noch in der Mutter noch in beiden zusammen zu finden, die wohl so gewissermaßen als die Bereiter des Materials anzusehen sind - das wir dann als die körperliche Komponente der Persönlichkeit ansprechen und vor Augen haben - die aber niemals ganz jener vorhergehende Zustand, jener Persönlichkeitsprozeß sein können, aus dem die neue Persönlichkeit, Herr X oder Frau Y, hervorgegangen ist.

 

Eine organische Wesenheit kann nur aus sich selber entstehen und niemals aus etwas, das ganz außerhalb ihrer selbst liegt. Vater und Mutter sind natürlich notwendige Bedingungen, aber sie sind nicht die einzigen; es gehört ein weiterer Faktor dazu, ein Faktor, der zwar nicht anschaulich gemacht werden kann, der aber trotzdem erlebbare und erlebte Wirklichkeit ist: die Lebensenergie des sterbenden Wesens, das da wieder ins Dasein tritt.

 

Diese Lebensenergie hat in jedem einzelnen Falle eine ganz bestimmte Färbung in psychisch-moralischer Hinsicht. Wir kennen sie als den Lebensstrom, in dem alles mitfließt, was je an Tun und Denken, an Wollen und Wirken in ungezählten Daseinsabschnitten des Individuums vollbracht wurde, und aus dem heraus, aus diesem Unterbewußten, dann alle jene psychischen Phänomene gespeist und gestaltet werden, die dem betreffenden Individuum typisch zu eigen sind. Den Inhalt dieses Lebensstromes bilden also jene unter der Bewußtseins-Schwelle liegenden, psychisch-moralischen Lebens-Tendenzen und Charaktereigenschaften, die sich aus dem Tun und Lassen in früheren Existenzen gebildet haben, und die so geheimnisvoll als charakterliche Veranlagung in Erscheinung treten.

 

Wenn wir uns den Vorgang der Wiedergeburt deutlich zu machen suchen, so haben wir vor uns das Bild eines sterbenden Individuums, das im Momente seines Todes, natürlich zwangsläufig und unwillkürlich, die allein ihm zugehörigen Lebens-Energien, seine Individual-Kraft, von der bisherigen körperlichen Gestaltung loslöst, um in einem neuen, frischen Material, das von dem ihm wahlverwandten Elternpaar im Momente der Zeugung bereitet ist, Wurzel zu schlagen. Man kann nicht sagen, daß dabei ein „Etwas" von der alten zur neuen Existenz übergeht, und doch folgt die eine Existenz der anderen, wie die eine Welle der anderen folgt. Von der charakteristischen Form der einen Welle hängt die der ihr folgenden ab, d. h. daß der (physische) Charakter der einen Welle den der anderen bedingt, ohne daß dabei etwas übergeht. So kann man auch sagen, daß der (psychische) Charakter eines Individuums den des ihm folgenden bestimmt, ohne daß dabei von einer Transmigration gesprochen werden kann. Wir mögen hieraus erkennen, daß der Ausdruck „Wiedergeburt" nicht völlig dem entspricht, was damit gesagt werden soll, denn es ist die psychische Kontinuität der veränderlichen Individual-Kraft, die sich bei der Wiedergeburt, also bei der Entstehung eines neuen Wesens, manifestiert, aber in Hinsicht auf den nun einmal bekannten und gebräuchlichen Begriff und trotz der ihm anhaftenden Möglichkeit, daß er nicht ein ganz richtiges Bild gibt, soll er beibehalten werden.

 

Man könnte einwenden, daß die freiwerdende psychische Energie eines sterbenden Menschen sich doch auch anderswo wieder aktivieren könnte als gerade dort, wo sich Sperma und Ei ihm wahlverwandter Wesen im Zeugungsakt berühren; aber so wenig sich eine physische Kraft, sei es der Dampfdruck im Kessel, die Spannung im elektrischen Leitungsdraht, sei es die Kohäsion oder Adhäsion usw., anderswo als an physischen Objekten aktivieren können, so wenig kann sich eine psychische Energie anderswo aktivieren als am lebendigen Organismus. Als unerläßlicher Faktor im Leben wirkt sie mit als Quelle des Lebendigen, das da im Mutterleib entsteht. Wo sie fehlt, gibt es aus Sperma und Ei keine embryonale Entwicklung, und darum ist der Tod eines Wesens und die dadurch freiwerdende Energie die Vorbedingung für die Geburt eines neuen Wesens. Damit läßt sich auch erklären, warum einer Häufung von Todesfällen, z. B. in Kriegszeiten, immer auch eine Häufung von Geburten folgt.

 

Wir haben noch zu berücksichtigen, daß die psychische Energie weder Raum noch Zeit kennt, und daß unser Planet Erde, als winziger Teil im unendlichen Kosmos, wohl kaum als einziger Träger lebender Wesen in Frage kommt. Wir wissen wenig oder nichts von Lebensformen außerhalb unseres Planeten und wir wissen nichts von Einflüssen solcher Lebensformen außerhalb unsere eigenen, aber daß sie bestehen können, darüber gibt es wohl keinerlei Zweifel.

 

Was würde es bedeuten, wenn infolge einer Naturkatastrophe alles Lebendige auf Erden vernichtet würde?

 

Die freigewordenen Energien würden, auf Grund ihrer Zeit- und Raumlosigkeit und der Unendlichkeit des Kosmos und seiner Möglichkeiten, sich eben anderswo manifestieren und aktivieren, als Faktoren des Lebendigen im Lebendigen. Am Leben als solchem würde sich dabei nichts ändern, und da sowohl Raum als Zeit, ja die ganze Welt in der Erscheinung nichts anderes als Projektionen psychischer Gegebenheiten der Einzelindividuen sind, und diese Individuen ein unterbrechungsloses Fließen erlebnismäßiger Zustände darstellen, vermag weder eine kleine noch eine große Katastrophe an der Tatsache des Lebens als solchem etwas zu ändern.

 

„Dem Willen zum Leben ist das Leben gewiß", sagte einst ARTHUR SCHOPENHAUER, womit er sich jenem entscheidenden Punkt näherte, von dem aus das Leben selber in Frage gestellt werden kann. Er hat diesen Punkt allerdings nie erreicht, und das mag auch der Grund sein, warum seine Philosophie nicht restlos zu befriedigen vermag; aber er hat doch eingesehen, daß das Leben am Willen zum Leben hängt, wie er auch durchschaute, daß die Welt allein am dünnen Faden des Bewußtseins hängt. Das aber ist schon ein eminent wertvoller und richtunggebender Blick hinter die Kulissen des Seins.

 

Wenn im Tode das Materielle zu neuen Formen und Formungen frei wird, so wird im Tode auch die psychische Energie frei zur Gestaltung neuer Wesen, und die Tendenzen des jeweils zerfallenden Bewußtseins, die der psychischen Energie inhärent sind, manifestieren sich wiederum im neuen Wesen, im neuen Individuum, das ein anderes ist als das vorausgegangene und doch dasselbe. Es ist Erbe seiner vorausgegangenen Existenz und trägt alles Gute und Böse derselben in sich.

 

Jedes Dasein läßt sich irgendwie auf einen Generalnenner hinsichtlich seiner psychisch-moralischen Qualitäten bringen, sozusagen auf eine Grundlinie, die für ein ganzes Leben richtunggebend ist. Diese Grundlinie, diese Resultierende aller Kräfte, kann im Tode so wenig in Nichts zerfallen wie das Stoffliche, das ja auch seine wesentlichen Eigenschaften im Akte des Sterbens nicht verliert, und so bildet sie in der Erbmasse des neuen Individuums jenen Kern, der dem neuen Bewußtsein Richtung und Gehalt gibt. 


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